landheim_2Ein Gastbeitrag von Frank Neubert.

Die meisten Schüler sind wohl bis auf ein oder zwei eines jeden Jahrgangs mit dem natürlichen Schutzinstinkt ausgestattet, sich möglichst klein und unauffällig zu machen, wenn es von Lehrerseite heißt: Freiwillige vor.

Dieser Instinkt erlischt mit fortschreitendem Erwachsenenalter und exponentiell zur wachsenden Zahl eigener Kinder. Schließlich findet man sich knapp vor der Kategorie der vielgeschmähten „Helikoptereltern“, wenn man sich beim Elternabend breitschlagen lässt, doch die Fahrt ins Landheim als Elternvertreter zu begleiten. Und so kam es wie es kommen musste. Ich meldete mich aus einer Laune heraus und alle früheren Schutzinstinkte vergessend zu einer solchen Fahrt. Was soll schon groß sein?, dachte ich leichthin.

Die Arbeit lässt sich umorganisieren und dann machst Du Dir drei schöne Tage in reizvoller Umgebung mit ein bisschen Wandern und den lieben Kleinen beim Spielen, Lachen und Singen zuschauen. Diese Illusion sollte ich im Schweiße meines Angesichts bitter bereuen. Und das mehr als einmal. Aber der Reihe nach.

Am Tag der Abfahrt entspricht alles noch dem Klischee.

Die Kinderlein werden von ihren Eltern zum Bahnhof gebracht und dort mehr oder weniger wehmütig verabschiedet. Zwei Stunden soll die Fahrt mit dem Regionalzug ins nahegelegene Mittelgebirge gehen. Ziel ist ein ehemaliges DDR-Ferienlager in einer ostsächsischen Kleinstadt, das bis heute unter einem privaten Betreiber durchgehalten hat. Es soll sehr schön dort sein, hatten andere Eltern mir vorab gesagt. Was keiner erzählt hatte, war der zu bewältigende Höhenunterschied von gefühlt 2000 Metern zwischen Bahnhof und Kinderbaude. Das Gepäck wird von einem Kleinbus des Heimes abgeholt. Doch dann heißt es laufen. Ach was laufen, kraxeln trifft es wohl eher.

Schon nach kurzer Zeit rinnt der Schweiß, obwohl es noch relativ früh am Tage ist. Sehnsüchtig denke ich an den Wanderstock meines Großvaters mit den vielen kleinen Nagelbildchen von erwanderten Sehenswürdigkeiten drauf. Den könnte ich jetzt gut gebrauchen. Scheiß egal, wie es aussieht.  Immerhin zeigen auch einige Kinder an, dass ihnen der Aufstieg zu steil und zu lange vorkomme.

Ein Glück.

Ich bin dankbar für jede Pause, wenn einer den Marsch ins Stocken bringt, weil der Schnürsenkel auf ist oder einer was trinken muss. Jeder Schritt scheint schwerer zu werden. Filmtitel wie „Full metal jacket“ oder „Der Soldat Jane“ in denen gezeigt wird, wie sich Rekruten amerikanischer Spezialeinheiten quälen, kommen mir in den Sinn. Das hier ist kein Schulausflug, das ist „Highway to hell“. Etwas Trost spendet der Gedanke an das Kriegsgefangenenepos „So weit die Füße tragen“.

Immerhin stapfe ich hier nicht durch die baumlose Eis-Tundra Sibiriens, sondern nur vorbei an malerischen Gartenparzellen im schönen Ostsachsen. Auch wenn es sich anfühlt wie die Eiger-Nordwand. Schließlich ist der Berg erklommen. So müssen sich die Bezwinger des K2 gefühlt haben, denke ich als das Wort „Rezeption“ auf einem Schild sichtbar wird.

Wenigstens sind die Racker schon mal ein wenig ausgepowert, spekuliere ich als der Puls sich wieder normalisert.

Denkste.

Der Duracell-Hase ist ein Rentner am Rollator gegen eine vierte Klasse, die wie losgelassen die Zimmer ihrer Ausflugsherberge in Beschlag nimmt. Von der Lautstärke mal ganz abgesehen. Kaum dass man sie noch anhalten kann, erstmal die Betten zu beziehen. Essenfassen, steht als Nächstes auf dem Programm. Brühreis mit Huhn.

Es kommt mir vor wie die Delphi-Platte bei meinem Lieblingsgriechen.

Doch die Tellerchen, mit denen die Kinder von der Ausgabetheke wiederkehren, erinnern fatal an Fingerhüte. Als die Reihe an uns Erwachsene kommt, schenken die Küchenfrauen immerhin ungefragt zwei Kellen ein. Jetzt ein bißchen dösen und ausruhen, denke ich nach der Kurzmahlzeit. Weit gefehlt. Die Kinderschar hat bloß noch ein Thema: GPS-Waldlauf. Ich stöhne unhörbar und hoffte inständig, dass das mit dem Laufen nicht ganz so ernst gemeint ist.

Der eigene Filius lässt sich von vier Mädchen zum Führer einer Fünfergruppe ausrufen und trabt ab zur technischen Unterweisung in Sachen GPS-Gerät. Das wird schon kindgerecht erklärt werden, dachte ich so und ließ ihn ziehen. Die haben ja hier Erfahrung.  Später im Wald habe ich dann Gelegenheit, einer verunsicherten Mädchenschar und einem störrischen Sohn zu erklären, dass gut sein in Mathe unter Umständen Leben retten kann. Zunächst mal hier, wo eine Zwangsübernachtung inmitten von Bären und Wölfen droht als auch später im Leben.

Sohnemann hatte zwar großspurig erklärt, das Gerät zu beherrschen, dann aber falsche Koordinaten eingegeben, die unsere Wanderung schon mit der ersten Station auf einen völlig falschen Weg führte. Ich überprüfe die technischen Eingaben aber auch erst als ich wieder schweißgebadet am Gipfel eines Berges mitten im Wald stehe und mich frage, ob das tatsächlich eine Erlebnisroute für Kinder sein kann?

Eine böhmische Krone auf einem halbverwitterten Grenzstein hat meine Zweifel ob der Richtigkeit unserer Marschrichtung jäh zur Gewissheit werden lassen. Es war aber auch der Ort meiner ersten Erkenntnis als Neulehrer: Gefahr steigert die Aufmerksamkeit. Die Kinder hängen förmlich an meinen Lippen als wir beginnen existenzielle Fragen zu erörtern: Haben wir uns jetzt tatsächlich verlaufen? Finden wir jemals wieder heim? Welche gefährlichen Tiere bevölkern den mitteldeutschen Wald und diesen ans Böhmische grenzenden speziell?

Flankiert von Mutmaßungen wie viele Kinder schon gebissen wurden, nachdem sie sich verlaufen hatten.

Eine Gewitzte aus der Mädchentruppe hat schon mal was von der Neuansiedlung von Wölfen gehört, was die anderen nicht gerade beruhigt. Ich, froh, dass wir erstmal verschnaufen können,  ergänze diese Betrachtungen mit dem Hinweis, dass Märchen wie das vom Rotkäppchen oder Hänsel und Gretel sicher nicht ganz dem Reich der Phantasie entstammten, sondern immer auch einen wahren Kern hätten. Was dazu führte, dass fortan nicht nur auf verdächtige Geräusche geachtet wurde, die auf die Nähe von Bär oder Wolf schließen ließen, sondern auch nach einem Hexenhäuschen Ausschau gehalten wird.

Wir runden dieserart Betrachtung ab, indem wir die Knochen der Kinderfinger vergleichen und schätzen, ob diese noch dünn genug wären, um im Hexenkäfig einen Zeitaufschub zu bekommen, bis Entsatz in Gestalt der Eltern oder wenigstens der lieben Klassenlehrerin naht.

Der Zufall und die grob eingeschlagene Richtung zum Hauptweg führt uns dann doch an einige Stationen, die es laut Streckenplan abzuarbeiten gilt.

Außerdem treffen wir auf eine Gruppe, die ebenfalls irgendwie „neben der Spur“ läuft, was an ihrem kaputten GPS-Finder liegt.

Zum menschlichen kommt also auch noch technisches Versagen dazu. Wie im richtigen Leben. Und trotzdem kommt an, wer sich einigermaßen nach Sonne, Moos an den Bäumen und der Tageszeit orientiert.

Alles Dinge aus dem DDR-Heimatkundeunterricht. Es war eben nicht alles schlecht, muss ich schmunzeln. Als junge Pioniere hatten wir noch begeistert Wanderungen mit Kompass und Karte gemacht. Da wäre sowas nicht passiert. Damals hatten die Kiefern im Wald auch fast alle so ein Glastöpfchen vor dem Bauch, in dem der Förster das Harz sammelte. Versöhnt werden alle mit der falschen Route durch die Erlaubnis, sich Wanderstöcke machen zu dürfen.

Selten hat mir „Schnitte mit Brot“ so gut geschmeckt wie an diesem Abend! Der Vater war so ziemlich der Letzte, der die Mensa verließ. In der Küche hatte ich zuvor für einen kleinen Sonnenaufgang gesorgt, indem ich das Salatbuffet lobte. Die Leutchen strahlten. Kinder verschwenden in der Regel keinen Gedanken ans Essen, geschweige, dass sie sich dafür bedanken. Und jeder Koch sieht Menschen gern, die herzhaft zulangen. Schon am nächsten Tag werden meine wiederkehrenden Bahnen am Buffet mit wohlwollendem Lächeln quittiert.

Der Abend in so einer Einrichtung ist immer der heikelste Teil. Man kann hier Betrachtungen über das unterschiedliche Verhalten der Kinder anstellen.

Manche sind das erst Mal von Zuhause weg, andere verwöhnte Einzelkinder. Von einem hatte die Mutter noch wortgewaltig und unter dem Kopfschütteln der versammelten Elternschar verkündet, sie würde ihm gerne das Esse mitgeben, denn das Gemeinschaftsessen würde das Kind mit Sicherheit nicht goutieren.

Bonmot am Rande. Das Kind entpuppte sich als umgänglich und war abends das erste am Buffet.

Sind sie am Tage noch so rabaukig, die wirklich harten Kerle und Mädchen zeigen sich, wenn es ins Bett geht und Mama nicht da ist. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Wird es dazu langsam dämmrig, sinkt auch der Frechheitsindex.

In einem Zimmer hätten die Teddybären plötzlich anders auf dem Bett gelegen, so der Aufreger zur guten Nacht. Ein klarer Fall für den Begleitvater!

Mit ernster Miene verkünde ich, die Sache sei völlig klar: Waldkobolde trieben hier ihr Unwesen. Ein erster Aufschrei aus piepsigen Kinderstimmen. Wirklich? Der eigene Filius grinst und sagt mit Betonung: „P a p a“. Und gewandt zu seinem Nebenmann: „Zuhause erzählt er immer sowas, wir kennen das schon.“ Er ja, aber viele hier noch gar nicht.

Ein dankbares Publikum, das noch für niederschwelligen Kinder-Horror empfänglich ist. Bei den eigenen nur noch zu erzielen durch ganz ausgefeilte Geschichten oder technische Effekte wie zuletzt eine Stroboskoplampe im dunklen Treppenhaus. Aber auch nur kurz. Prompt findet sich immer einer, der dazu sagt, er habe schon mal was von Trollen gehört. Aber hier? Die gäbe es nur in Norwegen. Genialer Einwurf. Richtig. Trolle sind es nicht, hier sind es Waldkobolde, die deutschen Verwandten der Trolle. Wobei nicht sicher sei, dass es hier im Grenzgebiet nicht böhmische Kobolde wären, die ihr Unwesen trieben.

Die heißen Franticek und Hrdlicka, fällt mir in Abwandlung der Lieblinge meiner Kindheit,  Hurvinek und Manicka, spontan ein. Die kennst Du? Im Wald stand ein Warnschild, meine Antwort. Ein ganz altes. Offene Münder ringsum. Was die noch machen würden? Naja, nachts die Decke wegziehen, versteckte Süßigkeiten aus dem Rucksack klauen, sowas halt. Skeptische beginnen zu lachen. Du spinnst! Mit der Diskussion über Koboldfallen und Wachen sind sie noch eine Weile beschäftigt.

Schließlich wird dann doch Ruhe, trotz Kobolden und Trennungsschmerz.

Zeit für die Lehrer und Begleiter sich noch ein Stündchen zusammenzusetzen. Man trifft Gleichgesinnte aus anderen Klassen, die Einrichtung kann mehrere Hundert Schüler gleichzeitig aufnehmen. Selbst die tschechischen Nachbarn schicken ihre Kinder hierher, wovon schon die zweisprachigen Schilder in der Mensa kündeten.

Die Pläne für den nächsten Tag werden besprochen. Ich schaue bedenklich auf Programmpunkte wie Hochseilgarten. Minigolf klingt harmlos. Nur dass man wieder den Berg runter muss dazu. Und das heißt, man muss auch wieder rauf. Nie wieder, schwöre ich mir im Stillen. Sollen sich andere doch mal so quälen. Von wegen zwei gemütlich Tage abseits von Scholle und Alltag. Strafbataillon 999 ist das.

Doch am zweiten Tag geht es schon besser.Das drei Wochen und eine kleine Diät, so könnten die kumulierten Pfunde purzeln, denke ich so.

Aber jetzt bloß nicht übermütig werden. Im Zug auf der Rückfahrt dann, vorbei an den Höhenzügen des heimischen Gebirges, stelle ich mir im Stillen die Frage: Würdest Du das wieder machen? Ich bin inzwischen vorsichtiger geworden.

Aber, ich glaube, ja.

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