Mit jedem Blick auf die Uhr werde ich nervöser – die Zeit rast und bis zu meinem Termin ist es nicht mal mehr eine Stunde hin.
Ich warte auf meinen Partner, der mich mit der Kinderbetreuung ablösen soll.
Er ist unterwegs zu mir, aber offenbar ist es auf der Strecke, auf der es sonst nie – nie!! – einen Stau gibt, zu zähflüssigem Verkehr gekommen. Es ist fraglich, ob er pünktlich hier ist, um mich für meinen Termin abzulösen. Dies hat er mir soeben am Telefon mitgeteilt.
Ich könnte absagen, aber es handelt sich um einen Termin, an den ich schwer herangekommen bin und der zudem geschäftlich sehr wichtig für mich ist.
Was also tun, wenn mein Partner nicht rechtzeitig hier ist? Das Kind mitnehmen? Der Geschäftspartner hätte sicher nichts dagegen, aber wahrscheinlich würde meine Konzentration auf das Gespräch gegen Null tendieren (mein Kind ist im Kinergarten-Alter…).
Hm. Ich überlegte.
Spontan eine Freundin anrufen, fiel aus, alle wohnten sie in der Stadt, während wir uns vor einiger Zeit auf dem Land niedergelassen haben.
Mir fiel Oma Berta ein, unsere Nachbarin. Eine nette, ältere Frau – Rentnerin -, die dann und wann Pakete für mich annimmt und die ich oft allein in ihrem Garten sehe. Einige Male schon haben wir eine Tasse Kaffee zusammen getrunken und dabei die eine oder andere spannende Geschichte über das Dorf, in das wir erst vor zwei Jahren gezogen sind, gehört.
Auch mein Kind kennt die Nachbarin und nennt sie –wie alle hier – „Oma Berta“.
Vielleicht könnte sie ja kurz einspringen, bis René, mein Partner, hier eintrudelt?
Ich greife zum Hörer, erreiche sie sofort und schildere mein Anliegen. „Natürlich – mach Dir keine Gedanken – ich komme rüber“ sagt sie mir sofort zu und kommt keine zehn Minuten später durchs Gartentor.
„Das ist doch selbstverständlich, dass ich einspringe, fahr Du zu Deinem Termin, ich passe hier solange auf“.
Oma Berta lässt sich auf unserer Terrassen-Sitzecke nieder, ich sage rasch meinem Partner Bescheid und nach einem liebevollen Abschied vom Kind, breche ich beruhigt zu meinem Termin auf.
Letztlich werden es wohl nicht mal 45 Minuten sein, die es zu überbrücken gilt, aber ohne Oma Bertas spontane Zusage hätte ich wohl alt ausgesehen!
Auf der Fahrt denke ich über die Hilfsbereitschaft in unserer Gesellschaft nach.
Zumeist wird ja die Abwesenheit selbiger beklagt und die vermeintliche Tatsache, dass „jeder sich nur noch selbst der Nächste und sowieso egoistisch geworden ist“.
Leute, die noch in der DDR aufgewachsen sind, stellen zudem eine – nach der Wende – gestiegene, soziale Kälte fest, in der “`eh kaum noch jemand dem anderen hilft”.
Aber ist das wirklich so?
Ich denke: nein.
Dass dieses Vorurteil sich so hartnäckig hält könnte daran liegen, dass es eben genau das ist: ein Vorurteil. Oder vielleicht ja auch eine gefühlte Wahrnehmung, da die Gesellschaft ja in der Tat sozial immer kälter wird.
Aber soll es wirklich Menschen geben, die eine Bitte, zu helfen, tatsächlich ablehnen? Aus dem reinen Impuls „nicht helfen zu wollen“? Ich glaube daran nicht.
Spontan fallen mir weitere Situationen ein, in denen Fremde sich untereinander im Alltag helfen. Meist sind es Kleinigkeiten, aber die machen es ja am Ende aus…
Vor einiger Zeit zum Beispiel suchte ich mir in einem Haushaltswaren-Markt verschiedene Behältnisse für meine Vorratskammer zusammen. Ich hatte mich für ziemlich große Behälter entschieden und als ich sie in meinen Einkaufswagen wuchten wollte, bekam ich sie von dem Stapel im Regal nicht auseinander. Was ich auch probierte, die Dinger waren wie fest geschweißt und Verkaufspersonal im ganzen Laden nicht zu sehen.
In dem Moment kam ein Mann in einem Handwerker-Aufzug vorbei, wahrscheinlich ein Mechaniker. Kurzerhand bat ich ihn um Hilfe und ruck-zuck – in nicht mal fünf Sekunden – hatte der die Dinger auseinander und sortierte sie in meinen Wagen.
Ich bedankte mich herzlich. „Kein Thema“ kommentierte er mit einem Lächeln.
Für ihn war es wahrscheinlich “kein Ding“, wie man so sagt, und mir war geholfen – ohne großes Aufheben, ideal!
Ein drittes Beispiel in Sachen „Hilfsbereitschaft“ fällt mir ein, auch hier spielt der Schauplatz „Einkaufsmarkt“ eine Rolle. Diese Art Hilfsbereitschaft, die hier eigentlich recht oft an den Tag gelegt wird, kennen Sie bestimmt auch.
Vor allem ist man hier mal der “Nehmende” und auch mal der “Gebende”.
Sie ahnen es vielleicht schon – Stichwort: „Kassenzone“….!
Wie oft habe ich es schon erlebt, dass man, wenn ich nur ein oder zwei Stücke in der Hand hatte, zu mir sagte „gehen Sie doch vor, Sie haben ja nur die paar Dinge“. Meist sagen das Leute mit proppevollen Einkaufswagen, wo das Passieren der Kassenzone schon mal zehn Minuten – bedingt durch einen Großeinkauf – dauern kann.
Auch ich habe oft einen solchen proppevollen Einkaufswagen, den ich zur Kasse rolle. Steht dann hinter mir jemand mit – sagen wir – einem Schokoriegel in der Hand, biete auch ich so jemandem an, vor zu gehen. Wird meist sehr freundlich dankend – und nie ohne ein herzliches Lächeln! – angenommen.
Das also zur – angeblich abwesenden – Hilfsbereitschaft.
Ich glaube schon, dass die Menschen untereinander, auch fremde Leute, hilfsbereit sind. Meine drei Beispiele aus dem Alltag sind nur einige wenige, ich denke, ein jeder von uns hat diese Erfahrungen bereits gemacht. Sowohl als “Nehmender” als auch “Gebender”.
Eigentlich ist es ein schönes Zeichen, dass, wenn von „Egoismus“ und „Kälte“ die Rede ist, wahrscheinlich immer nur „die Anderen“ gemeint sind…!
Und zudem ein Indiz dafür, dass Höflichkeit, Anstand und menschliche Wärme noch nicht dem – allseits grassierenden – Werteverfall zum Opfer gefallen sind.
Zum Glück! Für uns alle!
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