Ein Gastbeitrag von Jeannie Miller.
Vor ungefähr 20 Jahren wurde genau gegenüber von meiner bis dato sehr ruhigen Wohnung ein großes Haus gebaut. Die Maurer- und Zimmerarbeiten dauerten insgesamt über 3 Jahre, und oft ärgerte ich mich über das rücksichtslose Benehmen der Bauherren, die gelegentlich bis mitten in der Nacht hämmerten und sägten wie zum Beispiel einem Samstag bis weit nach Mitternacht.
Das geht nicht, denken Sie, wegen der Emissionsschutzverordnung?
Doch. Das ist möglich – in einem kleinen Dorf mit gerade mal 300 Einwohnern, wo der Staat der nachgewiesene Feind ist, jeder eine Kleinigkeit auf dem Kerbholz hat und nichts verpönter ist, als den anderen zu denunzieren, gleich, ob er schwarz arbeitet, unter der Hand einen Brennstoffhandel betreibt oder ohne Führerschein ein zulassungspflichtiges Kfz betreibt.
Nach langer, für mich zu langer, Zeit, war dann der Neubau endlich fertig. Eine junge Familie zog ein: Vater, Mutter und drei Kinder. Der Vater besaß neben einem äußerst gutdotierten Job zwei hochpreisigen SUVs und ein überzüchtetes Motorrad, dessen Motor er gerne mal nachts um 23:00 Uhr im Standgas aufjaulen ließ, vielleicht einfach nur, um sich bemerkbar zu machen.
Er telefonierte zu fortgeschrittener Stunde mit einer Freisprecheinrichtung und voll aufgedrehter Lautstärke in seiner Garage, feierte rauschende Partys, während derer betrunkene Gäste schon mal meinen Zaun durchbrachen und rückwärts über den Hang kullerten, ließ seine Kettensägen allabendlich leerlaufen, auch am Karfreitag und war nicht der Mensch, den ich mir als Nachbarn gewünscht hatte. Er blieb es auch.
Seine Frau, eine zierliche Blondine mit süffisantem Gesichtsausdruck, traf ich nicht so häufig. Gelegentlich begegneten wir einander mitten im Dorf, wenn sie ihren Hund spazieren führte. Sie grüßte nie. Auf dem Lande ist es oft so, dass nur der zählt, der etwas besitzt, und ich besaß – nichts. Das Häuschen, in dem ich residierte und mich sehr wohl fühlte, war gemietet, mein Auto nicht neu, und von einem riesigen Pool mit überdachter Terrasse, wie ihn der neue Nachbar angelegt hatte, konnte ich nur träumen auf meinem Weg ins kostenpflichtige Freibad.
Die Kinder des Nachbarn wuchsen heran. Jedes Jahr vor Schulanfang wurde eine Party gefeiert, bei der ungefähr 30 Kinder bis in die Nacht kreischten und sich amüsierten. Das Wort „nächtliche Ruhestörung“ war im Wortschatz meines Nachbarn nicht enthalten, dafür eine Menge anderer, nicht zitierfähige Ausdrücke, die ich mir, wenn er mal wieder betrunken mit der Trillerpfeife die Straße entlanglief morgens um vier Uhr, anhören durfte.
Ich hatte mich nach all den Jahren immer noch nicht an den rücksichtslosen Lärm gewöhnt, daran, dass Feiertage oder Sonntage für meinen Nachbarn keine Rolle spielen zu schienen, und ich war mehr als einmal sauer.
Täglich musste ich auf meinem Heimweg an dem großen, schönen Haus mit den Kupfergauben, dem Steingarten und der Doppelgarage mit den teuren Wägen vorbei und ärgerte mich jedes Mal: „Wieso hat der so viel und ich habe gar nichts? Das Leben ist nicht gerecht. Der Kerl ist so unsympathisch und rücksichtslos. Seine Frau eine arrogante Tussi. Ich arbeite wöchentlich 60 Stunden und habe nichts, schon gar kein schönes Haus.“ Das murmelte ich täglich in meinen nicht vorhandenen Bart. Und mein Groll wurde schlimmer.
Getrieben von der Angst, immer arbeitsam und fleißig sein zu müssen, da ich sonst meinen Job verlieren würde, nachts geplagt davon, dass mir die Vermieterin kündigen konnte, weil das Haus nicht mir gehörte, beneidete ich meinen lauten Nachbarn dafür, dass er wusste, wo er bis ans Ende seines Lebens bleiben würde. Blut und Boden. Eigentum. Er besaß sein Haus, sein schönes Grundstück, seinen Pool, einen Titel als Europameister in einer wahrlich skurrilen Disziplin, seine Kinder, seine attraktive Frau und ein Ego größer als die Zugspitze.
Und ich hatte immer noch nichts.
Dann musste ich wegziehen, denn die Vermieterin benötigte das Haus für sich selbst. Ein letztes Mal stand ich neidisch-wütend im Garten, blickte hin zu dem Prunkbau des lauten Mannes, dachte an sein Motorrad in der Garage, daran, dass ich wenigstens in Zukunft vom Partylärm verschont werden würde, dann ging ich weg.
Es zogen einige Jahre ins Land. Gelegentlich besuchte mich meine ehemalige Nachbarin, eine resolute Witwe Mitte 70. Wir hatten über zwei Jahrzehnte nebeneinander gewohnt und uns liebgewonnen. Der Abschied war uns beiden sehr schwer gefallen.
„Weißt du es schon?“ fragte sie. „Die Frau vom … ist schwer krank. Neulich wurde sie vom Krankenwagen abgeholt. Sie hatte ja Krebs.“
„Wie bitte?“ fragte ich konsterniert zurück. Irgendwie war ich der irrigen Annahme verfallen, dass reiche oder recht wohlhabende Menschen von Krankheiten verschont werden würden.
„Die ist doch nicht mal 50 oder?“
„Sie wurde jahrelang wegen Blasenkrebs behandelt und hat mir neulich noch erzählt, es sei alles ausgeheilt“ antwortete meine ehemalige Nachbarin, die rüstige Rentnerin mit unerschütterlicher Konstitution.
„Das tut mir leid“ sagte ich. Und ich meinte es auch genauso. Sie war doch so hübsch. So schlank. So vital. So… reich?
„Sie wurde für gesund erklärt. Dann brach sie zusammen. Jetzt liegt sie im Krankenhaus, hat Metastasen im ganzen Körper und ist zu schwach für eine Chemotherapie“ schloss meine Nachbarin, die immer alles über jeden wusste.
Äußerst nachdenklich fuhr ich einige Zeit später nach Hause. In meine Mietwohnung. Mit meinem alten Auto. Und seitdem denke ich nach.
Ich hatte die Frau nur ein paar Mal auf der Straße getroffen. Hatte ihr blasiertes Lächeln gesehen und mich darüber geärgert, denn vielleicht freute sie sich, während sie an mir vorbeiging, dass ich ärmer war als sie. Oder nicht so hübsch.
Jetzt stellte ich mir die ganze Zeit vor, wie viel Angst und Schrecken sie wohl erlebt haben musste in den letzten Jahren. Die Diagnose. Die Behandlung. Noch eine Behandlung. Ernste Gespräche mit neutral wirkenden Ärzten, die sich selbst von all dem Elend abgrenzen mussten. Die Auskunft, sie sei wieder gesund. Das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben über einen mächtigen Feind. Das vorsichtige Leben nach dem Krankenhaus, das feige Schöpfen von neuer Hoffnung.
Und dann hatte sie vermutlich gemerkt, wie sie täglich schwächer wurde. Vielleicht hatte sie vage geahnt, dass immer noch etwas Schlimmes in ihr lauerte, etwas, das mit Geld nicht zu besiegen war, etwas, das größer und gemeiner war als ihr betrunkener Ehemann.
Ich stellte mir vor, wie sie reglos vor ihrem Pool saß und nicht darin schwimmen konnte, weil sie sich nicht imstande fühlte, durch das Wasser zu tauchen. Wie sie durch ihr riesiges, schön eingerichtetes Haus schlich, zu schwach, es sauberzumachen.
Wie sie in ihrem begehbaren Kleiderschrank stand und gedankenverloren teure Kaschmirpullis oder edle Kleider betrachtete, die viel zu groß geworden waren.
Ich stellte mir vor, wie sie jetzt in ihrem Krankenbett läge, angeschlossen an Schläuche und Geräte, wohl wissend, dass sie ihr Zuhause eventuell nie mehr wiedersähe, betroffene weinende Kinder und einen Ehemann um sich, verzweifelt und einsam. Man ist immer einsam, wenn man stirbt.
Und dann ging mir meine unendliche Dummheit auf. Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt in meinem Inneren.
Sie hatte alles, und sie hatte nichts. Nichts davon ist relevant. Nichts davon kann sie mitnehmen. Nichts gehört uns – niemals. Das Wort „besitzen“ ist mir lieber als „Eigentum“, denn im Grunde bin ich Eigentümer von – gar nichts. Wäre ich es, würde es nach meinem Tode nicht in einen Container geworfen oder lieblosen Mitmenschen vererbt, die sich zu Lebzeiten nicht um einen gekümmert haben.
Ich bekomme diese Frau nicht mehr aus meinem Kopf. Und meinen sinnlosen Neid auf das bisschen Steine und Mörtel, das Metall und die Autos, die hübschen Kleider und den herrlichen Pool, denn mit nichts davon kann sie noch etwas anfangen.
Nur eine kleine Nachricht bei einem Plausch. Ein irgendwie belangloser Schwatz zwischen zwei Menschen, die einmal zwei Jahrzehnte nebeneinander wohnten, war diese Unterhaltung zwischen meiner früheren Nachbarin und mir. Man tauscht sich aus.
„Was hat der gemacht? Gibt es den noch? Trinkt der … immer noch so viel?“ Auf dem Land nennen wir das „Smalltalk.“ Aber die Wirkung war immens.
Seither schelte ich mich täglich. Darüber, dass ich mich fürchte. Vor der Armut, vor dem Alter, vor Gehässigkeiten, vor dem Fremden. Ich schelte mich dafür, dass ich immer noch so viel begehre, dass ich mir immer noch so viel wünsche, dass die Unzufriedenheit an mir nagt wie eine Krankheit.
Immer denke ich an sie – die grazile Blondine, die zu schwach ist für eine Chemotherapie. Die an ihrem für sie unbenutzbaren Pool saß und in das blaue Wasser starrte.
Das Leben ist ein merkwürdiges Ding. So fragil. Wir schließen Versicherungen ab, wetten quasi gegen uns selbst gegen alles Mögliche: Hochwasser, Todesfall, Unfall, Berufsunfähigkeit, Karies, Hagel, Unwetter, Reiserücktritt. Aber all das verschleiert nur, dass es von einer Sekunde auf die andere mit uns vorbeisein kann. Ich habe einen 26jährigen kennengelernt, der beim Rasenmähen mit einem Schlaganfall zusammen brach. Und ein Spaziergang auf dem Friedhof bringt Erkenntnis, wenn man sich die Mühe macht, Inschriften auf Grabsteinen zu lesen. So viele. So furchtbar viele, die nicht einmal ihr 30tes Lebensjahr erreichen.
Und dann verdrängen wir weiter. Fürchten uns vor Jobverlust oder einem Unfall, wischen heimlich die Türklinken in Krankenhäusern ab oder geben verschnupften Menschen nicht die Hände, essen keine Tomaten mehr, weil vielleicht der EHEC-Erreger in ihnen enthalten sein könnte, verzichten auf rotes Fleisch, verbieten Dieselfahrzeuge wegen des Feinstaubes, schicken Raucher nach draußen, schlucken überteuerte Vitaminprodukte, tragen Fitness-Armbänder…und nähren weiter unbewusst die Angst in uns. Gegen etwas, das nicht versichert werden kann.
Es ist so lächerlich, dieses Rattenrennen um das schönste Haus, das neueste Smartphone, das größte Auto, den coolsten Urlaub, die meisten Follower, das dickste Konto. Lächerlich und irrelevant.
Jetzt mit all meiner Lebenserfahrung, kann ich nur sagen: Etwas mehr Gelassenheit stünde uns gut zu Gesicht. Wir wissen nicht, woher wir stammen oder woher wir gehen. Aber WIE wir durch die Tage gehen, das können wir entscheiden. Mit ein klein wenig Freude an jedem einzelnen Moment. Mit ein wenig mehr Demut vor dem großen Unsichtbaren, das uns leben oder sterben lässt. Mit ein wenig Dankbarkeit, für das, was wir haben und weniger Neid auf diejenigen, die mehr haben als wir.
Ich wünsche mir, dass sie es schafft, die kühle, blasierte Blondine. Ich wünsche ihr von Herzen, dass sie es hinkriegt, nochmal an ihrem Pool zu sitzen und zu lächeln. Ich wünsche ihr von Herzen, dass sie zusehen darf, wie ihre Kinder heiraten und sie zur stolzen Großmutter machen. Allein schon dafür, dass sie mir dieses Geschenk gemacht hat: dankbar zu sein und zu erkennen, wie viel ich besitze. Wie viel mir gehört, wie endlich diese Existenz ist, und wie unbedeutend kleine bedruckte Papierscheine im Angesicht des Todes.
Mehr habe ich nicht zu sagen. Nicht heute.
Nachtrag, 6 Wochen später: Sie hat es leider nicht geschafft. Und in der Garage, in der ihr Mann laute Partys feierte und oft gegen Mitternacht den Gashahn seines Motorrads aufdrehte, hat er – wie mir meine frühere Nachbarin am Telefon erzählte – ihren Sarg gezimmert. Ganz allein.
Man ist immer ganz allein.
In diesem Sinne.
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