christa_schybollEin Essay von Gastautorin Christa Schyboll (im Bild).

Die Werte-Welt des Menschen schiebt sich mehr und mehr ins Chaos der Orientierungslosigkeit hinein.

Die alten Werte sind teils passé. Die neuen (noch) nicht vorhanden. Dabei sind Werte doch etwas Zeitloses, Unvergängliches – sollte man meinen. Und zugleich sehnen sich weltweit die Menschen auch wieder stärker nach einer verloren gegangen Orientierung.

Die scheinbar ewige Gültigkeit, die wir Werten einerseits bemessen wollen, löst sich andererseits dennoch immer wieder wie Schnee in der Sonne auf, wenn Kultureinflüsse in einem Wandelprozess stehen, Religionen vielfache Auslegungen erfahren und unter anderem auch zu Radikalisierungen führen. Kriege, Terror, Enthauptungen, massenhafte Kinderpornografie in allen Kulturen, Sexklaven und vieles mehr bestimmen unsere Schlagzeilen – auch wenn wir wissen, dass daneben das Gute, Wahre und Schöne im Schatten der Bad News natürlich ebenfalls gedeiht. Leise, zart – aber auch unaufhaltsam?

Festzuhalten ist: Vielen Menschen ist eine sichere Orientierung in Bezug auf Werte abhanden gekommen. Die Desorientierung ist auf einem gefährlichen Siegeszug über den Restverstand der Menschheit. Zwar vermögen die meisten Menschen für sich durchaus zu sagen, was ihnen besonders viel wert ist und was nicht, was sie für richtig und falsch halten. Aber hinterfragt man die Gründe, kommen viele schnell ins Stocken, weil tiefere eigene Gedanken zu Werte-Fragen oftmals noch nie ernsthaft gestellt wurden.

Hinterfragungen, Infragestellungen und Zweifel am automatisch Übernommenen können jedoch eine neue Werte-Sicherheit vermitteln, wenn diese ins Schwanken gerät, angesichts der vielen Einflüsse von Scheinmoral, Bigotterie oder auch falsch verstandene Liberalität, die nicht die Freiheit im Gepäck trägt, sondern eine entgrenzte Beliebigkeit, die man oft mit dem Begriff der Toleranz verwechselt. Diese feinen Unterschiede sollte man sich erarbeiten, wenn man tiefer einsteigen möchte.

Ist die Würde des Menschen unantastbar?

Wo menschliche Werte  an unmenschliche Grenzen stoßen oder wo sie umgekehrt grenzenlos gültig sein sollten, ist schon schwieriger zu beantworten. Noch schwieriger ist es jedoch, dabei die Kopfmeinung vom Herzempfinden zu sauber zu trennen.  Der Kopf bejaht so manches, wo das Herz oder der Bauch nein sagt.  Viele Menschen befinden sich damit in einer Ambivalenz, die weder allein mit Gedanken noch allein mit Gefühlen zu überbrücken ist. Gelingt da nicht  eine Symbiose von Herz und Hirn, müssen wir ohnmächtig vor so mancher komplizierten Frage in Bezug auf Werteorientierung die Flügel zusammenklappen und uns eingestehen, dass wir gar keine richtige Meinung oder innere Haltung haben.

Nehmen wir das Beispiel der Würde des Menschen. Der Verstand lacht vielleicht bei dieser Frage laut auf und ruft laut in die Welt: „Holla! Die Würde des Menschen ist unantastbar – Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz.  Das gilt für jeden Menschen und sein Tun. Was gibt es denn da überhaupt zu hinterfragen?“ – Nicht wenige Menschen kämen jedoch bei der Hinterfragung, was mit der Würde der Hure und ihrem Tun ist, wenn sie ihren Leib verkauft, um einzig und allein, den Trieb eines Mannes zu befriedigen, schon ein wenig ins Nachdenken.

Hinterfragt man dann so manchen Freier, ob er diese Frau mit ihrem Tun auch mit dem Begriff der Würde assoziiert, so wird so mancher von ihnen müde abwinken. Was aber, wenn man diesen Werte-Gedanken anhand dieses Beispiels einmal umgekehrt denkt und argumentiert? Hier kann sich nun schnell eine Spaltung von Herz und Hirn vertiefen, wenn man sich darauf näher einlässt und den Argumenten einmal vorbehaltlos folgt, die ich in meinem Psychodrama „Mea maxima culpa – Gottes Magd und Teufels Braut“ eine meiner Romanprotagonistinnen in den Mund gelegt habe.

Mea maxima culpa – zwischen Moral und Scheinmoral

Zwei Freundinnen haben sich lange nicht mehr gesehen. Sie erzählen sich von ihrem Leben und  die eine outet sich der anderen als Edelprostituierte. Sie hat sich dabei  unter anderem auch den Fragen von Würde und Scheinmoral zum  eigenen Tun gestellt und sich dabei eigene Gedanken aus ihrer Perspektive dazu gemacht.

Ein kleiner Auszug:

„Es geht auch um die Würde, Linda. Gerade in unserem Gewerbe ist das eine wichtige Frage. Auch wenn sie sich kaum jemand mit klarem Verstand aus Sorge vor der Antwort gern stellen mag. Ich kam für mich  selbst um diese Fragestellung nicht herum, weil ich nicht zum Verdrängen des Unangenehmen im Leben tauge. Ich muss mit meinem Tun  im vollen Einklang mit mir selbst stehen. Deshalb habe ich mich mit dem Thema  auseinandergesetzt und bin der Auffassung: Nur dort, wo ich geachtet werde, ist auch Würde im Spiel.

Zu achten habe ich vor allem jedoch mich selbst! Es geht um die Würde, die ich mir selbst gebe. Würde, die ich in mir lebendig verspüre, um die ich weiß. Verachte ich mich selbst wegen meiner Tätigkeit, die ich ausübe, so spiegele ich diese Verachtung bewusst oder unbewusst wider. Infolge dessen werde ich auch von den anderen Menschen verachtet.

Verachtung ist keinesfalls nur ein trauriger Zufall. Verachtung ist eine Folge, die auch aus dem eigenen Tun und der eigenen inneren Haltung zu sich selbst erwächst. Wenn man innerlich nicht klar kommt mit dem, was man tut, aber seine Situation eben doch nicht verändert, verliert man seine Würde. Es ist ein sonderbarer Mix, für den man selbst die Verantwortung trägt.

Nicht ich verliere meine Würde in diesem Deal mit den Männern. Denn mein Spiel ist ehrlich, sauber und klar. Es ist frei bestimmt, bezahlt und wird auch zu meinen Bedingungen gespielt. Ich liefere nicht nur, was bestellt ist, sondern schaue mir vorher genau den Bestellzettel an.

Ich habe nicht alles auf Lager und bin keinesfalls bereit, alles zu besorgen, was gewünscht ist. Selbst wenn ich es kann. Meine Würde behalte ich nur, wenn ich das tu, was ich auch will und mir meine eigene Grenze stecke und mich keinesfalls nach den Grenzen anderer richte. Würde und innere Freiheit sind für mich untrennbar verbunden. Ich verstecke mich nicht. Ich trete offen auf und trete  auch für mich selbst ein.

Derjenige, der mich bucht und mich bezahlt und mich zugleich deswegen verachtet, der allein begeht in einem solchen Fall doch seine eigene Entwürdigung. Er hat sich selbst zu verachten, statt mich.

Denn in seinen Augen ist sein eigenes Tun letztlich ja unter seiner Würde, aber er tut es eben doch, weil er Opfer seiner Triebe und Bedürfnisse ist.“

Weg aus dem Dilemma der Orientierungslosigkeit

Hier wird die Sache mit der Würde spannend. Denn nun ist es der Mann, der in diesem Deal seine Würde deshalb verliert, weil er letztlich Verachtung dem „Objekt“ seiner Begierde entgegenbringt –  immerhin ein Mensch, eine Frau –  sie  aber gleichzeitig dennoch „benutzt“. Er steht, im Gegensatz  zu dieser Prostituierten eben nicht hinter seinem eigenen Tun. Damit befindet er sich in einem Dilemma, mag es ihm bewusst sein oder auch nicht. Und nur, weil er sich vielleicht keine Gedanken über all das macht und diese Aspekte in sich verdrängt, ist aus moralischer Werte-Sicht das Dilemma ja nicht gelöst.

Verachtet er allein die Prostituierte, die er „benutzt“, dann begreift er in diesen Momenten nicht die wahren Zusammenhänge im Zusammenhang mit Menschenwürde und verwechselt Ursache und Wirkung. Er allein ist es selbst, der sich seine eigene Würde nimmt, wenn er in seinen Augen etwas Verachtungswürdiges tut, weil er es einfach nicht lassen kann.

Dort hingegen, wo ein Mann die Frau als Mensch mit Würde auch in der Prostituierten würdigt, sie schätzt, ehrt und keine Form von Verachtung oder Scham vor ihr oder ihrer Tätigkeit verspürt, ist die gleiche Situation sofort umgekehrt. Hier kann durchaus auch Freude, Fröhlichkeit und Lust erlebt werden, weil ein klarer Deal, hinter dem man steht, geschlossen wurde. Sich dabei etwas vorzumachen, was nicht auch tiefe Herzens- und Bewusstseinswirklichkeit ist, ist dann wieder nur Selbstbetrug, der vielleicht einem inneren Alibi geschuldet ist. Damit ist die Diskussion um die Würde allerdings nur kurz angerissen. Der hier mögliche der Erörterung sprengt die Dimension des Themas.

Entscheidend bei der Würde, die man selbst in sich verspürt, ist und bleibt nun einmal die eigene innere Haltung zum eigenen Tun. Je tiefer sich Frauen und Männer über den Wert ihrer eigenen Würde im Klaren sind, diesen Wert lebendig in sich verspüren, werden sie diesen Wert auch jedem anderen Mitmenschen zollen wollen. Diese Grundhaltung könnte Realisation des Friedens in der Welt und unter den Geschlechtern zumindest beschleunigen.

Doch der erste Schritt dahin beginnt mit der selbstkritischen Hinterfragung. Wie definiert man Werte wie zum Beispiel die Würde,  wo verspürt man sie lebendig und wo ist sie letztlich doch nur ein theoretisch-juristisches Konstrukt im Grundgesetz, das in der Realität des Lebens völlig haltlos untergeht?

Widmen wir uns solchen Fragen, werden wir den Begriff der Würde als höchst schützenswertes Gut nicht nur bejahen, sondern sie auch in der Praxis des Lebens hüten, weil sie uns allen den Weg zu tieferer Lebensqualität öffnen wird.

— Christa Schyboll —

Unsere Gastautorin, Christa Schyboll, arbeitet als Autorin und Kolumnistin.

Zuvor war sie als Presse- und Vorstandsassistentin, Redakteurin und Sachbearbeiterin in verschiedenen Instituten und Verbänden tätig. Nach Jahren der Kindererziehung, sozialen Aufgaben und gesellschaftlichem Engagement, begann Christa Schyboll als Mittdreißigern erste Gedichte zu schreiben. Darauf folgten Aphorismen, Lyrik, Prosa, Satiren. Einzelwerke ihres Schaffens sind in über 50 verschiedenen Buch-Titeln anderer Autoren sowie auch in vielen Anthologien veröffentlicht. Seit 2008 arbeitet sie auch als Kolumnistin im Internet. 2012 veröffentlichte Christa Schyboll ihren ersten Roman “Jenseits der Dunkelwelt”.  Zwei weitere Romane folgten 2015/2016 (“Besessen – Die anderen Bewohner” (swb Media)  und “Mea maxima culpa – Gottes Magd und Teufels Braut” (Brokatbook).

Ebenfalls entstand aus Schybolls Feder eine 26-teilige pädagogische Kinderbuch-Serie, die monatlich mit einer neuen Geschichte bis Ende 2017 veröffentlicht wird. Es handelt sich um Geschichten zur Unterstützung einer werte-orientierten Erziehung.

Mehr zur Autorin, ihrem Schaffen und ihren Büchern finden Sie auf www.christa-schyboll.de

Copyright / Bildnachweis: Christa Schyboll

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