Fahrräder im Vintage-Look, Rollschuhe statt Inline-Skates oder Videospiele in 8-Bit Grafiken – immer häufiger begegnen uns im Alltag die guten alten Dinge von Früher.
Was in der Mode schon lange Gesetz ist, findet nun auch in anderen Lebensbereichen seine Anhänger: Nach einiger Zeit wird jeder Trend einmal wieder modern. Doch warum hängen wir so an den vergangenen Zeiten und ihren stilistischen Besonderheiten?
Auf dem Dachboden der Eltern oder Großeltern wird heute nicht mehr nur nach hippen Vintage-Klamotten gesucht. Auch Das großgemusterte Kanapee oder die alte Musiktruhe sind wieder gefragte Einrichtungsgegenstände in modernen Wohnzimmern geworden. Die Industrie hat auf diesen Trend schon lange reagiert und produziert verstärkt Produkte, deren Aussehen uns an frühere Klassiker erinnern.
Die Sehnsucht nach Vertrautem ist riesengroß. Scheinbar hilft uns die Nostalgie dabei, in unserer schnelllebigen Welt besser klarzukommen.
Back to the 60s, 70s, 80s…
In der Mode ist der Blick zurück in andere Jahrzehnte ein festes Element bei der Schaffung „neuer“ Trends. Gab es bisher immer wieder ein Revival der Kleidungsstile anderer Jahrzehnte ist die Modewelt heute noch schnelllebiger geworden. Oftmals existieren verschiedene Trends parallel zur selben Zeit. Die unterschiedlichen Stile dienten außerdem dazu, sich von der älteren Generation abzuheben oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Subkultur zu signalisieren. Diese eindeutige Zuordnung verschwimmt heutzutage.
In dieser Saison sind beispielsweise wieder verschiedene Details aus den 80er und 90er Jahren an den angesagten Stücken zu finden. Neonfarben, betonte Schulterpartien oder das Must-Have dieser Zeit – die Jeansjacke im Stonewashed-Look: solche Teile dürfen dieses Jahr in keiner Boutique fehlen.
Dabei werden die entsprechenden charakteristischen Einzelheiten keineswegs einfach nur kopiert, sondern in den heutigen Zeitgeist übertragen und mit anderen Trends kombiniert. Tauchten die grellen Neonfarben früher lediglich auf Kleidung und Accessoires auf, machen es moderne Kosmetikprodukte heute möglich, etwa auch die Haare entsprechend zu färben. Die ausgegrabene Jeansjacke sollte am besten mit großen Blumenprints und -stickereien oder ausgedehnten Logosprüchen verziert werden, um derzeit so richtig angesagt zu sein.
Auf diese Weise finden alte Trends immer wieder zurück in unsere Kleiderschränke. Dennoch bleiben die Details ganz klar als Zitat aus ihrer jeweiligen Zeit erkennbar. Sie transportieren damit immer auch eine gewisse Aussage – das Lebensgefühl der entsprechenden Ära oder die Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis. Durch die Kombination mit anderen Strömungen wird dies jedoch in einen anderen, aktuelleren Kontext gestellt.
Retro vs. Vintage
Wer dabei ein Original aus der ursprünglichen Zeit aufgestöbert hat, kann sich glücklich schätzen. Denn die echten Vintage-Teile besitzen oftmals dieses gewisse Etwas, was das Stück so besonders macht. Dem Relikt von früher haftet bereits etwas Patina an. Es wirkt zwar manchmal schon ein wenig abgegriffen, erzählt dabei aber auch eine Geschichte. Daneben wirken die nachgemachten und auf alt getrimmten Retro-Produkte fast ein wenig leblos.
Der Wunsch nach Individualisierung und dem Ausdruck seiner ganz persönlichen Note durch die Kleidung ist heute so groß wie nie. Wirklich alte Stücke schlagen die neuen Retro-Imitationen dabei um Längen. Denn hier ist in der Regel sicher, dass es sich um ein Einzelstück handelt, das so wirklich kein anderer von der Stange im nächsten Laden um die Ecke erwerben kann.
Dennoch ist die Nachfrage nach Produkten in Retro-Optik ungeschlagen groß. Die charaktervollen Dinge von früher wecken bei uns einfach viel mehr Emotionen als die modernen gesichtslosen Produkte. Ein gutes Beispiel ist hier der Trend zu Uhren im Vintage-Stil. Große Ziffernblätter mit Zahlen oder auch einer sichtbaren Mechanik sind wieder beliebter als die hochtechnischen Smartwatches.
Die Suche nach Heimat und Identität
Persönliche oder auch kollektive Erinnerungen spielen im Leben der Menschen eine große Rolle. Wir neigen dabei dazu, verschiedene Erlebnisse oder Bilder aus der Vergangenheit zu verklären. Als Folge wird oftmals von der „guten alten Zeit“ gesprochen, in der „früher alles besser“ war. In diesem Fall wird die Nostalgie zu einer gewissen Form der Gegenwartsflucht.
Um uns dieses heimelige und vertraute Gefühl wieder zu verschaffen oder eine positive Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen, können Dinge aus der entsprechenden Zeit dabei helfen. Dieses Phänomen wird von den Marketingabteilungen gezielt genutzt, wenn neue Produkte mit dem Look von damals versehen werden. Selbst neue Erinnerungen versehen wir heute gerne mit einem Hauch Nostalgie, wenn wir unsere Handyfotos mit den entsprechenden Retro-Filtern bearbeiten.
In der modernen Welt verschwimmen die regionalen Besonderheiten zunehmend. Uns selbst ist es möglich geworden, fremde Länder in Windeseile zu erreichen und der Zuzug anderer Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen bereichert unseren Alltag immer mehr. Im Internet können die Grenzen mit nur einem Mausklick überwunden werden. Dabei haben viele das Gefühl, dass ihre eigene Identität dabei auf der Strecke bleibt.
Vertrautes als Sicherheit
Bei der riesigen Fülle an Möglichkeiten ist es heute schwieriger geworden, sich selbst und seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Was genau unsere Heimat und Identität ausmacht, kann nicht mehr so einfach beantwortet werden. Die vertrauten Gegenstände von Früher helfen uns dann ein Stück weit dabei, uns nicht selbst zu verlieren.
Tim Keil, Leiter der strategischen Planungsabteilung der Hamburger Kreativagentur „Philipp und Keuntje“ sagt dazu: „In Krisenzeiten, wenn wir uns unsicher fühlen, wenden wir uns vermehrt Dingen zu, die wir kennen. Denn sie versprechen uns Sicherheit und Stabilität“. Die „Ostalgie-Welle“ – eine große Nachfrage nach Produkten aus der ehemaligen DDR hat vielen über den Verlust der nationalen Identität hinweggeholfen.
Die Dinge von früher, egal ob original oder nachgemacht weisen zudem oftmals eine ganz andere Verarbeitungsqualität auf. Eine handwerkliche Herstellung oder ursprüngliche Materialien – dies vermittelt ebenso Werte wie Beständigkeit, Ehrlichkeit oder auch Regionalität und Vertrauen. Statt der digitalen und entmaterialisierten Produkte von heute können die herkömmlichen Produkte noch mit einer realen und handfesten Materialität überzeugen. Sie sind greifbar und physikalisch tatsächlich vorhanden. Wenn wir uns von neuen Situationen oder Technologien überfordert fühlen, besinnen wir uns dann automatisch auf Bekanntes.
Mittel zur Entschleunigung
Dabei tragen die alten und bewährten Dinge auch ein Stück weit zur Entschleunigung bei. Um die Zeit auf einer analogen Uhr von den Zeigern abzulesen braucht es etwas länger, als bei einer Digitaluhr. Die moderne Medienlandschaft reagiert mit immer kürzeren und knapperen Inhalten auf die gesunkene Aufmerksamkeitsspanne der Menschen.
Wer sich aus diesem Kreislauf ausklinken will, kehrt vom Smartphone wieder zum guten alten Buch oder einer handfesten Zeitschrift zurück. „Retrowellen tauchen auf, wenn sich Zeit beschleunigt. Es ist die Suche nach Authentizität“, sagt Sabine Sielke. Sie hat an der Universität Bonn das Projekt „Nostalgie“ in die Wege geleitet und beschäftigt sich mit diesem Phänomen.
Gerade eine analoge Armbanduhr erinnert uns an eine Zeit, in der das Leben noch in einem etwas gemächlicherem Tempo ablief, wir nicht 24 Stunden am Tag per Handy erreichbar waren und alles trotzdem gut funktionierte.
Secondhand als bewusste Konsumentscheidung
Für viele sind die alten Vintageprodukte auch eine bewusst gewählte Alternative zu Neuware. Gebrauchten Dingen ein zweites oder drittes Leben zu verschaffen hat heute ebenfalls wieder viele Anhänger gefunden. Nicht nur Flohmärkte liegen im Trend, auch digitale Modelle wie Tausch- oder Verkaufsplattformen von Secondhand Ware sprießen wie die Pilze aus dem Boden.
Einerseits ist es die Einzigartigkeit und die Authentizität der alten Produkte, andererseits ihre Langlebigkeit, die von den Käufern gezielt gesucht wird. Statt Plastik- und Billigware aus Fernost suchen sie lieber nach gebrauchten, aber immer noch funktionierenden und solide hergestellten Stücken. Ein Gegenentwurf zur schnelllebigen Wegwerfgesellschaft, bei dem alte Werte wieder an Bedeutung gewinnen und gleichzeitig die Umwelt geschont wird.
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