Frau auf einer BankTeil 2. – Leser/innen, die den ersten Teil nicht kennen, können gern hier klicken und Teil 1 von “Mein Leben mit posttraumatischer Belastungsstörung” von Johanna* lesen.

Achtung! Dieser Text enthält teilweise Stellen, die auf Betroffene verstörend wirken oder sie triggern könnten! Bitte bedenken Sie das, ehe Sie mit dem Lesen beginnen. Danke.
Dezember 1982
Das Telefon an meinem Schreibtisch klingelt. Ich kann nicht rangehen, denn seit ich heute Morgen aufgewacht bin, bekomme ich den Mund nicht weiter als ein paar Millimeter auf. Meinen Kaffee musste ich durch einen Strohhalm trinken. Also bedeute ich meiner Kollegin mit einem Handzeichen, das Gespräch für mich anzunehmen.
 
Der Boss schickt mich zum Zahnarzt. Dieser wiederum ruft beim Kieferchirurgen an. Ich bekomme umgehend einen Termin.  Man verpasst mir eine Plastikschiene, die ich erleichtert einsetze. Die Schmerzen werden schnell besser. Nach ein paar Stunden verschwindet die Kiefersperre endlich, und ich kann wieder sprechen und essen.
Jeden Abend setze ich jetzt die Schiene ein, ehe ich schlafen gehe, genau eine Woche lang.
Nach 7 Tagen habe ich sie durchgebissen.
 
 „Lesen Sie Märchen vor dem Einschlafen oder irgendetwas, das Sie entspannt” rät mir meine freundliche Zahnärztin.
„Was Sie haben, nennt man ‚Bruxismus’. Wenn unbewusste Kräfte wirken, beträgt der Kaudruck pro Quadratzentimeter ungefähr 500 Kilo, ist also bis um beinahe das Zehnfache erhöht. Dadurch können sich Ihre Zahnwurzeln lockern. Leiden Sie unter Stress?”
Ich bin jung, hübsch, habe einen guten Job und viele liebe Freunde. Also schüttle ich irritiert den Kopf.
„Nein, kein Stress. Mir geht’s gut. Ich verstehe das nicht. Machen Sie mir eine neue Schiene bitte?”
„Beiß die Zähne zusammen. Beiß dich durch” befiehlt die Stimme in meinem Inneren.
Manchmal funktioniert es, aber nie für immer. Irgendwas bricht in einem, wenn sowas passiert. Manchmal sind es nur Zähne. Manchmal das Rückgrat.
 
Die Geschichte mit meinem Exfreund ist gerade mal 2 Wochen her. Die in Österreich 7 Monate.
Stark sein, zusammenreißen. Nie etwas anmerken lassen. 
Diese Kiefersperre signalisiert mir vermutlich, dass ich um Hilfe bitten soll. Aber meine Lippen sind verschlossen. Außer mit meiner Freundin Sabine habe ich mit niemandem darüber gesprochen. 
Wenn sie merken, dass du schwach bist, fallen sie über dich her. Der Gepard sucht sich immer die schwächste Antilope.
Ich bin nicht schwach.
Mai 1982
Damals wollte ich eigentlich nur zurück ins Hotel. Es war spät, ich war übermüdet und hatte in der Nacht zuvor keine Sekunde geschlafen. So toll war diese Disco nicht, in der ich am Tresen stand und mich langweilte.
„Ich möchte nach Hause” sagte ich deshalb und zupfte meinen angetrunkenen Onkel am Ärmel, damit wir endlich aufbrachen. Meine Eltern hatten ihn gebeten, mich an diesem Abend zu begleiten. Er reagierte nicht, sondern bestellte sich noch einen Schnaps.
Eigentlich hätte ich es wissen müssen. Auf meinen Onkel war nie Verlass gewesen.
Wir besuchten die Schwester meiner Mutter in einem Kaff in Österreich. Meine Eltern logierten bei den Verwandten auf der Besucher-Couch, mein Onkel und ich hatten uns zwei Zimmer in einem Hotel gemietet, das einen wohlklingenden Namen trug. Er war ein Synonym für das Wort „vorurteilsfrei”.
Grotesk. Weil Nomen nicht immer gleich Omen ist.
 
Ich war 21 Jahre alt, gertenschlank, mit langen Haaren bis zur Taille, ungebunden, unbefangen und von dem Willen besessen, mich zu amüsieren. Irgendwo, irgendwann, könnte ich nämlich Mr. Right kennenlernen. Und ich wünschte mir eine Familie mit Kindern, ein kleines Reihenhäuschen und ein nettes, geordnetes Leben. Also musste man die Augen offenhalten, denn der Richtige konnte einem jederzeit begegnen. Warum nicht auch in Österreich?
 
Eigentlich hätte ich abends, zusammen mit meinen Eltern, mit den Verwandten am Tisch sitzen sollen, ihren Geschichten über Leute lauschen, die ich nicht kannte, und zusehen, wie sie Wein aus winzigen Gläsern tranken. Aber das wollte ich nicht.
Die Welt gehörte mir. Ich wollte was erleben. Und so war ich in dieser Dorf-Disko gelandet, in der scheinbar alles aus Holz bestand: Theke, Tische, Stühle und Wandverkleidung, nur die Tanzfläche nicht. An der lederbezogenen, fast leeren Bar bediente ein grantiger Keeper und servierte mürrisch Drinks.
 
Ein junger Typ baute sich damals den ganzen Abend immer wieder vor mir auf und wollte mir eine Rose überreichen.  Wenn ich ihn wegschickte, kam er nach 10 Minuten zurück und grinste mich dümmlich an. Ich vermute mal, die anderen Einheimischen, die um die Tanzfläche verteilt im Kreis an den kleinen Tischen saßen, hatten ihn dazu angestiftet, denn sie ließen mich keine Sekunde aus den Augen.
Noch nie bin ich so penetrant angestarrt worden wie an diesem Abend. Frauen steckten die Köpfe zusammen und zeigten auf mich, und der Rest beobachtete mich heimlich oder ganz unverhohlen. Ein wenig hatte ich mich über die beinahe feindselige Ausstrahlung der Männer dort gewundert. Ich verstehe sie bis heute nicht. Aber ich passte vermutlich einfach nicht hierher. Vielleicht wirkte ich exotisch auf sie in meinem schneeweißen zweiteiligen Kostüm mit den hohen bordeauxfarbigen Schuhen aus Wildleder und dem auffälligen Make-Up.
Bestimmt hielten sie mich für arrogant und blasiert.
Der nervige Typ, der mich die ganze Zeit belästigte, war einen Kopf kleiner als ich, schmächtig, mit fahlem, grauem Teint und aschblonden Haaren, die störrisch in die Stirn wuchsen. Vielleicht der Dorfdepp, denke ich heute. Einmal sagte er mir seinen Namen. Ich hab ihn nie vergessen. Die ganze Zeit wollte er tanzen, doch ich lehnte jedes Mal ab. Er war mir zu klein, zu blond und zu fade. Zwar war ich auf der Suche nach Mr. Right, aber er war einfach nicht mein Typ.
 
Anfangs wimmelte ich ihn freundlich ab, später wurde ich unhöflicher, denn er kam immer wieder, als hätte ich nie etwas gesagt. Es schien beinahe, als verstünde er gar nicht, warum ich nicht wollte, oder dass ich nicht wollte.
 „Lass mich in Ruhe” raunzte ich ihn nach zwei Stunden an. „Ich will nicht tanzen.”
Ein paar Minuten später kam er abermals an, als wäre nichts vorgefallen. Die Männer an den Tischen lachten.
„Ich will ins Hotel. Jetzt fährt kein Taxi mehr. Lass uns endlich gehen.” Nochmals zupfte ich meinen Onkel am Ärmel, aber der schien mich nicht mal mehr zu hören. Sein Kopf war auf den Tresen gesunken. Der Barkeeper ließ ihn einfach sitzen und schaute ihn nur gelegentlich böse an.
 
„Das ist nicht weit, da kannst du laufen, ich zeige dir den Weg” bot mir der schmächtige blasse Typ an, der wie ein Geist hinter mir aufgetaucht war. Unentschlossen blickte ich mich um. Alle Augen waren auf uns gerichtet. Wenn ich jetzt mit ihm verschwände, könnten sie herumerzählen, er hätte mich abgeschleppt. Aber irgendwie brauchte mich das nicht zu interessieren, denn ich würde hier definitiv nie mehr herkommen. Das wusste ich.
Wie man sich doch täuschen kann.
Es war höchste Zeit, endlich schlafen zu gehen. In der Nacht zuvor war ich mit meiner besten Freundin Sabine unterwegs gewesen, und wir hatten mehrere Diskotheken besucht.
Anschließend hatte sie mich um 3:30 Uhr samt meiner am Abend zuvor gepackten Reisetasche beim Haus meiner Eltern abgeliefert, die schon stinksauer auf mich warteten, denn wenn sie nach Österreich fuhren, starteten sie spätestens gegen 4:00 Uhr morgens. Ich kam gerade noch rechtzeitig, hatte keine Sekunde geschlafen und war überdreht.
Total übernächtigt hatte ich im Auto etwas gedöst, nach der Ankunft mein Hotelzimmer in Besitz genommen, pflichtschuldigst Kaffee mit meiner Tante getrunken und war dann später, geduscht und geschminkt, ohne Abendessen, in der Nacht verschwunden, begleitet von meinem Onkel, der zu diesem Zeitpunkt noch nüchtern gewesen war.
Auch heute noch denke ich: „Wenn ich nur das Schild mit der Aufschrift: Samstagabend Tanz” nicht gesehen hätte. Wenn ich doch nur bei meinen Verwandten geblieben wäre oder im Hotelzimmer.”
Eine Million Mal habe ich es mir schon vorgeworfen. Und das werde ich weiter tun.
 
Wenn, wenn, hätte, hätte.
 
Mittlerweile war ich so richtig müde, also nickte ich und sagte: „Ok, zeig mir den Weg.”
Der Bursche war viel kleiner als ich, dünn, und angeblich erst 17. Von dem hätte ich nichts zu befürchten.
Dann verließen wir die Disko, von allen beobachtet. Mein Onkel pennte weiter mit dem Kopf auf dem Tresen.
Wir liefen eine Weile schweigend durch die Dunkelheit. Einmal wollte er meine Hand nehmen, aber ich zog sie weg, denn ich fand den Burschen allmählich richtig unheimlich.
„Hier geht es doch gar nicht zum Hotel” sagte ich, als wir vor einer Absperrschranke standen, hinter der ich unscharf eine Wiese in der Dunkelheit erkennen konnte.
 
Ich weiß nicht, wie es anderen Menschen geht, aber man erkennt Gefahr oft nicht auf den ersten Blick. Der Instinkt hatte mich komplett im Stich gelassen, woran mit Sicherheit auch der Schlafmangel und die zwei Gläser Wein in der Disco schuld gewesen waren. Meine Reaktion kam mit Verzögerung. Und die Gefahr registrierte ich nicht sofort, weil ich nicht mit ihr gerechnet hatte. Nicht in diesem winzigen Kaff, wo sogar die Tanzlokale holzgetäfelt waren, nicht in diesem Land, in dem meine braven Verwandten lebten. Nicht ich. Nicht mir. So was passiert doch immer nur anderen. Mein Gehirn hatte einen schrecklich langen Bremsweg in diesem Augenblick.
Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich unsicher – einer Situation ausgesetzt, die ich nicht kannte.
Bis dahin hatte ich auch noch nie etwas von Vergewaltigung gehört. Niemandem, den ich kannte, war so was passiert.
 
Er packte mich am Oberarm und wollte mich auf die Wiese drängen. Es war ein Gefühl, als hätte ich versucht, einen zentnerschweren Schrank zu verrücken und würde gerade erkennen, dass dieser dabei ist, mich unter sich zu begraben – dieser eine Moment, in dem die Gefahr real wurde, diese Sekunde, in der ich realisieren musste, dass es jetzt tatsächlich aufs Kämpfen ankam.
Bisher hatte ein „Nein” immer gereicht. Überall.
Ich wehrte mich verzweifelt, kratzte, biss, trat nach ihm und schlug ihm ins Gesicht. Er verpasste mir einen Faustschlag. Da schrie ich das erste Mal in meinem Leben vor Angst.
Ein Schrei ist das Zeichen absoluter Hilflosigkeit. Das Signal, dass man allein nicht mehr weiterkommt. Die Erkenntnis, dass man sich in Gefahr befindet und Hilfe braucht. Es war schwer für mich, zu schreien, ich hatte darin keine Übung. Dieser jämmerlich heisere Laut war ein Eingeständnis, dass ich dabei versagt hatte, mich selbst zu verteidigen.
Jemand war dabei, etwas gegen meinen Willen zu tun. Als ich das realisierte, trat ich aus mir heraus. Man nennt das „Dissoziation” – eine Entpersönlichung.
Ich schrie nochmal, viel zu leise, ungeübt. Mutlos. Meine Stimme brach. Das hier – das passierte nicht wirklich, war nur ein Traum. Leider nein.
Ich. Wirklich. Real. Jetzt. Angst. Darum bat ich mit diesem brüllenden Krächzen, das ich noch nie gebraucht hatte, um Hilfe.
Niemand reagierte. Der Ort wirkte wie ausgestorben. Alle, die noch wach waren, saßen in dieser mit Holz ausgekleideten Disko und zerrissen sich jetzt wahrscheinlich das Maul über den spillerigen Dorftrottel, der die Auswärtige abgeschleppt hatte.
Es war Mai. Anfang der 80er-Jahre. Eine kühle Nacht voller Sterne.
Ich sah sie blinken und glitzern, während meine Seele starb. Sie zersplitterte in tausende von Einzelteilen wie ein großer Spiegel, und seit damals bemühe ich mich, sie wiederzufinden, damit ich ein Zerrbild von mir zusammensetzen kann, mit dem meine Umwelt klarkommt.
Einige Teile sind für immer verloren. Das Vertrauen, das Gefühl von Sicherheit, die Gewissheit, dass die meisten Menschen eigentlich ok sind.
Vielleicht liegen die Scherben heute noch unter Erde vergraben auf dieser Wiese. Wenn ich in den Spiegel sehe, sind da so viele blinde Flecken. Als hätte man eine zerschlagene Vase geklebt und nicht alle Bruchstücke gefunden. Überall nur Leim statt Porzellan: Disziplin, Härte gegenüber mir selbst, Resignation.
Und Wut. So schrecklich viel Wut.
Jedes Mal, wenn ich Autoscheinwerfer nahen sah, schrie ich wieder, dann drückte er mir die Kehle zu. Einmal biss ich ihn, denken Sie sich einfach, wohin, und bekam einen Faustschlag ins Gesicht. Ein Frontzahn splitterte. Auf meinem rechten Jochbein platzte die Haut auf.
Ich schmeckte Blut.
Wie lange es dauerte, weiß ich nicht mehr. Es gibt Details, zu denen hat mein Gedächtnis auch heute noch keinen Zugang. Unaussprechliche Dinge geschahen.
Unaussprechlich.
Ich erinnere mich einfach nicht an mehr. Die Einzelheiten jener Nacht sind ein Bereich in meinem Gehirn, für den ich nicht die richtige Ausrüstung besitze. Vielleicht hatte ich sie früher mal, nun ist sie weg. Mein Gedächtnis ist an dieser Stelle vom Unterbewusstsein blockiert. Es fühlt sich an, als würde ich versuchen, eine geschredderte Enzyklopädie wieder zu einem kompletten Buch zusammensetzen zu wollen. Streifen zerschnittener Erinnerungen im Mülleimer meiner Seele.
Nicht einmal in Hypnose fand ich Zugang. Es sind nur noch stroboskopartig leuchtende Millisekunden übrig im Gedächtnis, so demütigend, so schmerzhaft, dass ich es nicht schaffe, sie bei Tageslicht zu betrachten. Als versuchte ich, einen Igel mit giftigen Stacheln zu streicheln.
Wahrscheinlich ist es besser so.
Vielleicht hätte ich den Sex, die Penetration mit einem Fremden, irgendwie überstanden. „Ok, du warst unvorsichtig, selbst schuld, du bist mitgegangen, hättest auch in der Disko bleiben können bei deinem Onkel. Das ist nur Sex, werde damit fertig und jammere nicht.”
Es war die Demütigung, mit der ich nicht klarkam. Es war der gebrochene Wille.
Weihnachten 2008
„Dankeschön.” Geknickt betrachte ich die wunderschöne Halskette aus geflochtenem Golddraht mit einbearbeiteten echten Edelsteinen. Sie ist ein Geschenk. Vermutlich war sie teuer.
 
Ich kann sie nicht tragen. So wie Pullover mit Rollkrägen oder hochgeschlossene, bis zum Hals geknöpfte Blusen.
Gelegentlich versuche ich es und ziehe probehalber einen Rolli an. Aber dann zupfe und zerre ich sekündlich an meinem Hals herum, weil ich es nicht ertrage, irgendetwas dort auf der Haut zu spüren.
Also lege ich die herrliche Kette in den Schrank zu den anderen. Eines Tages vielleicht.
Wenn die Hölle zufriert…Wenigstens gehen Schals. Ich habe gelernt, mich zu bescheiden.
Mai 1982
„Drück doch zu” krächzte ich irgendwann, als wieder Scheinwerfer so nah und doch so fern vorbeifuhren und niemand meinen Schrei gehört hatte. Er würgte mich, fester als die letzten Male, und ich wartete darauf, dass ich sterben würde und wehrte mich nicht mehr. „Mach endlich ein Ende.”
Ich habe vorhin geschrieben, dass meine Seele in dieser Nacht starb. Das klingt plakativ, aber genauso fühlt es sich an. Wie weit ist man, wenn man tot sein möchte? Man hat alles aufgegeben. Alles, das einen ausmacht.
„Teile der Psyche spalten sich in so einem Moment ab, weil das Erlebte zu unerträglich ist” sagt meine Therapeutin, die kluge Frau mit den warmherzigen Augen, 2012 zu mir. Sie ist der festen Überzeugung, dass Seelen nicht sterben. Das kann sie aber nicht beweisen.
 
Ich wollte damals tot sein. So richtig tot. Nicht fernseh-tot. Nein, ich wünschte mir ein Ende allen Schmerzes. Vergessen können, dass ich gebrochen worden war.
Irgendwann war es vorbei. Es könnte Stunden gedauert haben. Minuten. Oder eine Million Jahre.
Er brachte mich ins Hotel und drückte mir vor der Eingangstür 70 Schilling in die Hand „für die Reinigung”, wie er erklärte, als er abfällig mein blutiges, ehemals weißes, zerrissenes Kostüm mit den vielen Grasflecken musterte. Einer meiner Absätze war abgebrochen, von meiner Brille, die ich in der Hand trug, beide Bügel. Der Inhalt meiner Handtasche lag verstreut immer noch auf der Wiese.
 
Wie ein dressierter Hund lief ich neben ihm her, unfähig, ein Wort zu sagen. Irgendwas in mir befahl mir, zu schweigen, mir nichts anmerken zu lassen. So zu tun, als wäre gar nichts passiert, als hätte er mich nicht verletzt. Keine Blöße geben. Diesem kleinen aschblonden Dreckschwein keine Genugtuung gönnen.
Das wollte ich nicht. Und ich lebte ja noch. Immerhin.
In einem kleinen Winkel meiner selbst wusste ich, dass diese Tatsache keine Selbstverständlichkeit war.
Ich hasse dich, du krankes Stück Dreck. Ich hasse dich bis in die Grundfesten dessen, was von meiner Seele übriggeblieben ist. Du hast den Bauplan gezeichnet für diese wackelige Holzhütte, die ich heute „meine Persönlichkeit” nenne. Mögest du verreckt sein. Irgendwo, ganz allein.
Als ich durch die Eingangshalle des Hotels wankte, war die Senior-Chefin des Hotels noch wach und saß an der Rezeption. Sie musterte mich missbilligend. Vielleicht dachte sie, in Deutschland wäre es ein Volkssport, sich in Blut zu wälzen und sich Grashalme ins Haar zu stecken.
Eigentlich hätte ich sie um Hilfe bitten müssen. Oder sie mir welche anbieten. Aber sie meinte nur mit harter Stimme: „Wie segn Sie denn aus? Ich glaub, des mecht nimmer genga, dass Sie bei uns schlofn.” Sie erklärte mir, ich dürfte diese Nacht noch bleiben, dann müsste ich verschwinden.
Hotel „Vorurteilsfrei”. Bei der Namensfindung habt ihr wohl alle kräftig gelacht, oder?
„Sollte ich jetzt nicht eigentlich duschen wollen?” dachte ich, als ich in der schummrigen Diele vor der Nasszelle stand. Blutig, dreckig. Benützt und weggeworfen wie ein gebrauchtes Papiertaschentuch.
Ich glaubte, irgendein unsichtbares Drehbuch, das zuließ, dass mir solche Dinge geschahen, würde vorschreiben, dass ich mich schmutzig fühlte, dass ich mich waschen wollen würde. Diesem Skript musste ich folgen, sonst würden noch mehr unaussprechlicher Dinge folgen, da war ich sicher.
Alles in mir war kalt und abgestorben. Ich zitterte nicht, ich fror nicht. Regungslos stand ich eine Ewigkeit in der Dusche, bis ich das Wasser endlich anstellte. Ich wusch mich nicht, ich berührte mich nicht. Und ich sah meinen Körper nicht an.  Nicht an diesem Tag, nicht am nächsten.
Es war, als wäre ich gar nicht mehr da, sondern nur noch eine Silikonpuppe, die mal wieder saubergemacht und gepudert werden muss.
„Mörder bin ich keiner” hatte er gesagt, als ich ihn gebeten hatte, endlich zuzudrücken und dem ein Ende zu machen.
Doch. Ein Mörder bist du. Und ich hoffe, du bist elendiglich krepiert, egal woran. Über Jahre hab ich gegoogelt und im Internet nach dir gesucht, aber ich hab dich nicht gefunden. Sonst hätte ich dich besucht, mein kleiner blasser Freund.
 
Oft hab ich mir vorgestellt, was ich mit dir machen würde. Wie du vor mir auf den Knien liegen würdest und winseln, wenn ich mit dir fertig wäre.
Ich musste es dem Karma überlassen, das nie jemanden vergisst. Dich kriegt es auch. Oder hat dich gekriegt. Ohne diesen Trost hätte ich nicht weitermachen können.
Meine Eltern registrierten am nächsten Tag die blutige Jacke, als ich sie ihnen zeigte, mit betretenen Gesichtern, und sagten dabei kein Wort. Ich selbst konnte es nicht aussprechen, sondern nur stumm das mit Gras- und Blutflecken besudelte Kleidungsstück hochheben, weil ich mich so furchtbar schämte. Weil ich insgeheim dachte, ich hätte es verdient. Was gehe ich auch nachts allein in die Disko, nur mit einem versoffenen Onkel. Warum bin ich nicht brav bei den Verwandten geblieben, wie eine gute Tochter?
Mein Onkel, der mich betrunken im Stich gelassen hatte, lachte dreckig, als er die Jacke sah. Vermutlich dachte er, es geschähe mir recht. Er lebt noch und ist heute über 80. Er lebt noch. Ich war tot.
Was sind da schon ein paar blaue Flecken im Gesicht, eine Platzwunde oder ein gesplitterter Zahn.
 
„Weil es so nett am Vortag gewesen war”, wollten meine Eltern eine weitere Nacht bei der Schwester meiner Mutter verbringen. Vorsichtig fragten sie, ob ich damit einverstanden sei. Man konnte erkennen, wie sie sich bemühten, mein Gesicht nicht allzu genau zu betrachten.
Ich hatte dick Make-Up über die verletzten Stellen geschmiert.
Die Ungeheuerlichkeit dieser Bitte ging mir erst Jahrzehnte später richtig auf, als ich während der Trauma-Therapie versuchte, mich an Einzelheiten zu erinnern. Vielleicht dachten meine Eltern: „Sie lebt ja noch, was soll’s.”
Ich nickte damals nur. So wie ich in den darauffolgenden Jahrzehnten zu so vielem nickte. Nur nicht „Nein” sagen, sonst gibt es was in die Fresse. Nur nicht „Nein” sagen, sonst halten sie dich für arrogant. Am besten so tun, als könnte dir keiner was. Keine Schwäche zeigen. Niemals. Vor niemandem mehr. Sonst wirst du nochmal dressiert. Immer nett sein, viel lächeln. Immer beflissen und bemüht sein. Sonst…
Da ich aus dem Hotel geflogen war, suchten mir meine Eltern ein Zimmer in einem Gasthof. Dann bestellten sie mir Frikadellen mit Kartoffelsalat. Die konnte ich aber nicht essen, denn meine Hand mit der Gabel zitterte so sehr, dass ich meinen Mund nicht traf. Also aß ich nichts.
„Alles ok, lieber nicht” sagte ich, als mein Vater mich fragte, ob wir zur Polizei sollten. Man merkte, wie unangenehm ihm das alles war. Keine Umstände machen wegen mir, der Tochter. Ich bin niemand. Bitte.
 
Von diesem Moment an war jeder mein Feind. Keiner meinte es gut mit mir. Ich konnte keinem mehr vertrauen. Aber das habe ich erst sehr viel später begriffen.
 
Ich wollte nicht zur Polizei und Fragen beantworten wie zum Beispiel: „Warum sind Sie mit einem wildfremden Menschen durch die Nacht gelaufen? Warum haben Sie kein Taxi gerufen? Warum sind Sie allein in einem Lokal gewesen mitten in der Nacht? Warum sind Sie nicht in Deutschland geblieben? Warum waren Sie so stark geschminkt?”
Es waren die 80er. Bitte dran denken.
Am Montag brachte ich mein Kostüm nach der Arbeit in die Reinigung. Ich hatte wenig Geld und konnte mir kein neues kaufen. Meine Freundin würde es mir später flicken. Ihr erzählte ich alles. Sie wollte mit mir dorthin fahren, den Typen finden und zu Brei schlagen.
Ich lehnte ab, fand es aber lieb von ihr. Keine Konfrontation mit dem Geschehenen. Bitte nicht. Noch nicht. Außerdem hielten mich alle für stark, resolut, durchsetzungsfähig. Ich konnte doch dieses Bild nicht kaputtmachen.
Schwarze Kiste auf, Grauen rein, Deckel zu. Ich dachte, ich hätte meine Ruhe.
 
Mai 2012 – 30 Jahre danach
Seitdem mir der Psychiater erklärte, dass ich an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, ist das Bohren in mir da und hört nicht mehr auf. Stundenlang google ich wie besessen und  suche Zeitungsberichte der letzten 30 Jahre aus diesem kleinen Kaff in Österreich. Ich gebe ein: „Vergewaltigung”, „Verbrechen”, „Serie” und seinen Namen. Nichts.
Die Vorstellung ist mittlerweile grauenhaft für mich, dass ich daran schuld sein könnte, wenn er es wieder getan hat. Weil ich zu feige war. Weil ich mich den herablassenden Blicken irgendwelcher Männer nicht stellen konnte. 
 
Bitte Gott, lass mich nicht schuld sein am Unglück anderer Frauen. Lass ihn kurz darauf krepiert sein, von einem Auto oder vom Zug überfahren. Nicht noch eine. Bitte.
Alle Bilder, die ich über das Hotel finden kann, betrachte ich mit brennenden Augen und speichere sie auf meinem Computer. Ich erinnere mich sogar noch daran, wie es in meinem Zimmer roch, an die Ehrfurcht, mit der ich damals die Lobby betrat zum Einchecken. Ich war so blutjung und hätte mir das Zimmer eigentlich gar nicht leisten können, denn ich verdiente nicht viel. Damals, gerade volljährig geworden, wollte ich doch nur weg von meinen Eltern sein, wollte einmal „Dame” spielen, so tun, als könnte ich es mir leisten, leere Zimmer in Besitz zu nehmen, mich beim Frühstück bedienen zu lassen.
Ich wollte doch nur…
Der Entschluss, 2012 nach Österreich zu fahren, überrascht mich selbst.
Aber ich muss mich dem allem endlich stellen, das habe ich zu lange hinausgezögert. Also bitte ich einen Bekannten, mich zu begleiten. Allein möchte ich mir das nicht zumuten. Es sind 30 Jahre vergangen. Ein halbes Menschenleben. 
Die Fahrt dauert länger, als ich es in Erinnerung habe. Und jetzt gerade – beim Schreiben – fällt mir auf, dass es wieder Mai war. Wie damals, 1982.
Ist das unheimlich.
 
Ein grauer Tag. Der Himmel hängt schwer über dem kleinen Kaff, als wir endlich ankommen und am Bahnhof einen Kaffee trinken. 
„Bitte warte hier auf mich” sage ich. „Ich hab was zu erledigen.” Aber er besteht darauf, mich zu begleiten.
Dünn bin ich geworden, noch dünner als damals. Ich trage eine Jeans und eine gemusterte Bluse, dazu Turnschuhe.
Lektion gelernt: nicht zu auffällig stylen…
Es dauert nicht lange. Mit schlafwandlerischer Sicherheit, wie von unsichtbaren Schnüren gezogen, durchquere ich den winzigen Ort und finde sofort das Lokal. 
Noch immer hängt ein Schild an der Tür: „Samstags Tanz”. Ich versuche, einen Blick durch die Scheibe nach drinnen zu erhaschen. Da ist der Gang mit den Marmorfliesen. Dahinter der Eingang. Die Tür steht offen. Die Theke. Mich schaudert.
 
Darum drehe ich um und verlasse diesen Platz. Einen Moment bleibe ich stehen und schließe die Augen.
Dann mache ich mich auf den Weg. Ich brauche nicht weit zu gehen. Nur ungefähr 300 Meter vom Lokal entfernt: die Schranke vor der Wiese. Und die Wiese. Unmittelbar daneben das Hotel.
 
Ganz ruhig bin ich, allerhöchstens erschrocken über mein gutes Gedächtnis. Der Türsteher meiner Psyche, mein Unterbewusstsein, sagt: „Bis hierhin und nicht weiter. Du gibst ohnehin sonst keine Ruhe. Also mach ruhig, aber beschwere dich anschließend nicht.”
Ich laufe an der Schranke vorbei auf die Wiese, bis ich ungefähr an der Stelle ankomme, wo es passiert ist. Dann starre ich hoch. Die Straße, auf der die Autos vorbeifuhren, wo ich die Scheinwerfer aufleuchten sah, ist doch so verdammt nah. Warum hat mich niemand gesehen? Niemand gehört? Das Hotel ist höchstens 20 Meter entfernt. 
 
Angst habe ich keine, bin nur unglaublich wütend und fassungslos. 
Dann tappe ich über die Wiese zum Hotel. Verlassen steht es da, vom ehemaligen Prunk ist nicht mehr viel zu sehen. Lange presse ich mir die Nase an den dreckigen Scheiben platt, um ins Innere sehen zu können. Im Frühstücksraum, in dem ich nie saß, weil sie mich nicht wollten, stehen noch gepolsterte Stühle. Ihre Bezüge sind verblichen.
Es wäre schön, wenn meine Erinnerungen das auch täten.
 
„I glaub, des mecht nimma genga, dass Sie bei uns schlofn.”
Das Hotel ist seit vielen Jahren geschlossen. Dieses biestige alte Weib mit dem schlampigen Dutt ist gestorben. Ich habe ihre Todesanzeige gesehen.
Müde setze ich mich auf eine Bank genau vor dem Hotel. Ich bin bereits einmal auf ihr gesessen, an einem Sonntagmorgen im Mai 1982, und habe darauf gewartet, dass meine Eltern mich abholen. Vor mir stand die braune, unförmige Reisetasche, die mir mein Vater geliehen hatte, in der meine blutige Jacke lag, auf dem Boden.
„Mach bitte ein Foto von mir” bitte ich meinen Bekanten und reiche ihm mein Handy.
Dann recke ich – auf eine jämmerliche Art und Weise triumphierend – beide Mittelfinger hoch und lasse mich fotografieren.
„Ihr seid weg, aber ich bin noch da!” sage ich laut. „Scheiß auf euch.”
Anschließend laufen wir auf meinen Wunsch nochmals durch den Ort. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe – vielleicht, dass ich durch Zufall auf ihn stoßen könnte. Oh, ich würde ihn wiedererkennen. Mein Unterbewusstsein ist der Steuermann, aber ich bin der Kapitän. 
Was würde ich tun, wenn er mir begegnet?
Keine Ahnung. Mich treiben lassen, sehen, was das rotglühende Wutmonster in meinem Inneren so hergibt. Ihn anzeigen, auf ihn losgehen. 
 
Aber wir treffen ihn nicht. Natürlich. 30 Jahre sind eine lange Zeit.
 
Lieber Gott, bitte mach, dass er es nie mehr getan hat. Dass er nicht noch andere Frauen verletzt und gequält hat. Ich hätte es verhindern können, wenn ich ihn damals angezeigt hätte. Aber ich hatte solche Angst, dass sie sagen würden, ich sei selbst schuld. Ich konnte mich all dem nicht stellen.
 
Bald darauf fahren wir zurück. Die Tür zu meinem Unbewussten ist seither einen Spalt weit offen. 
Geht es mir seitdem besser? Irgendwie ja, irgendwie nein. Es war eine Aufgabe, die ich zu erledigen hatte. Weil ich nicht feige sein will.
 
Und ich habe die Stelle nach 30 Jahren wiedergefunden, beim ersten Anlauf.
Ohne sie zu suchen.
 
Wissen Sie warum? Weil ich sie in Wirklichkeit nie verlassen habe. Weil mein wahres Ich nach wie vor dort saß, zusammengekauert, zusammengeschlagen, und schmutzig.
 
Sie freute sich, dass ich sie endlich abgeholt habe.
Es hat ja auch lange genug gedauert.
Lesen Sie nächste Woche: Die Geister, die ich niemals rief – Mein Leben mit posttraumatischer Belastungsstörung – Teil 3 Manchmal geschehen schlimme Dinge auch zweimal.

*Name von der Redaktion geändert

Bildnachweis (Symbolbild): pixabay.com

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