Verstirbt ein Mensch, dann ist das für die nahe stehenden Angehörigen zumeist ein Schock, mit dem es emotional umzugehen gilt. Haben gestandene Erwachsene hiermit meist schon Probleme und sind nicht selten lange Zeit wie gelähmt, fällt es Kindern oft noch viel schwerer, den Tod eines nahen Angehörigen zu verarbeiten – Kindertrauer ist ein Thema für sich.

Das gilt vor allem dann, wenn die Mutter oder der Vater verstirbt oder – auch das kommt ja vor – sogar beide Elternteile von jetzt auf gleich nicht mehr da sind. So zum Beispiel nach einem Unfall. Ganz gleich, auf welche Art und Weise eine enge Bezugsperson für immer aus dem Leben scheidet: die Trauer trifft Kinder brutal!

Im Gegensatz zu Erwachsenen gehen Sie jedoch mit diesem Ausnahmezustand anders um. Während sehr kleine Kinder die Endgültigkeit des Todes noch gar nicht realisieren, verarbeiten ältere Kinder den Schmerz auf vielerlei Weise. Von Verdrängen bis hin zum Wutanfall ist bei trauernden Kindern die ganze Bandbreite verschiedener Emotionen im Spiel.

Oft jedoch sind die weiteren Hinterbliebenen mit der Trauer des Kindes überfordert oder/und wissen nicht so recht, wie sie damit umgehen sollen. Die Unsicherheit, auf welche Art und Weise man einem Kind hier Unterstützung gewähren kann, ist oft groß.

Da ist es naheliegend, dass Menschen, die das Thema Trauer professionell angehen, diesen Kindern zur Seite stehen sollten.

Aber: wie in vielen anderen Bereichen auch, ist Hilfe auf diesem Gebiet rar gesät, muss nach entsprechenden Angeboten gründlich suchen, wer hier einem Kind adäquate Unterstützung zukommen lassen möchte.

Das realisierte auch Katrin Gärtner (im Bild), die selbst als Jugendliche ihre Mutter verlor und durch die nicht verarbeitete Trauer als junge Frau in tiefe Depressionen stürzte. Mit Hilfe einer professionellen Therapie gelang es ihr, im Alltag wieder Fuß zu fassen und ihr Leben engagiert zu gestalten. Eine Begegnung mit einem kleinen Mädchen, die kurz zuvor ihre Mutter verloren hatte, erinnerte sie sofort an ihre eigene Situation und sie spürte ihre innerliche Not. Die Leipzigerin wollte helfen und ging davon aus, per Recherche einen entsprechenden Verein oder eine Initiative, die sich auf Trauerarbeit für Kinder spezialisiert hat, in ihrer Heimatregion rasch zu finden.

Dies entpuppte sich allerdings als Falschannahme! Entsprechende Initiativen gab es nur in anderen Regionen in Deutschland – weit weg und auch nur vereinzelt. Katrin Gärtner überlegte nur wenige Tage, dann stand ihr Entschluss, ein solches Angebot in Leipzig zu schaffen, fest.

Heute ist der von ihr gegründete Verein „Wolfsträne e.V.“ mit einem professionellen Angebot für Kinder, die Mama, Papa oder beide Eltern verloren haben, in der Pleißemetropole etabliert.

Dennoch wird permanent Unterstützung benötigt – ganz gleich, ob in Form von ehrenamtlichem Engagement, Spenden oder eines Sponsorings. Der Bedarf ist sehr groß, Katrin Gärtner hatte mit ihrer Idee, einen solchen Verein in Leipzig zu gründen, die richtige Intuition.

Im Interview erzählt sie von der Arbeit des Vereins, ihrer eigenen Trauer und wie sie mit ihren Mitstreitern Kindern, die mit dem Tod eines nahen Angehörigen konfrontiert sind, wieder neuen Lebensmut gibt. Als Fachfrau gibt sie zudem Auskunft darüber, wie sich nicht verarbeitete Trauer bei Kindern in späteren Lebensjahren auswirken kann.

FB: Katrin, Dein Engagement, Dich für Kinder zu engagieren, die ein (oder beide) Elternteil(e) verloren haben, hängt auch mit Deiner persönlichen Lebensgeschichte zusammen – erzähl doch einmal davon!

KG: Meine Mutter ist gestorben als ich 14 Jahre alt war, vorher haben wir durch ihre Erkrankung als Familie einen langen Leidensweg durchlebt. Nach ihrem Tod war schlagartig alles anders. Mein Vater, meine Großmutter und weitere Familienmitglieder waren in ihrer eigenen Trauer gefangen und haben mich nicht als trauernde Jugendliche wahrgenommen.

Ich bin ohne einen Fehltag weiterhin in die Schule gegangen, habe 9 Tage später an der Klassenfahrt teilgenommen, bin meinem Hobby, dem Tanzen, eifrig nachgegangen, habe Freunde getroffen und all die Dinge gemacht, die 14-jährige Mädchen ebenso machen. Meinen Schmerz, meine Ängste, meine Trauer hat keiner gesehen.

Gesehen hat man eben nur das funktionierende Mädchen.

Ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Mutter starb meine Großmutter mütterlicherseits, ein weiterer Verlust, der mir schwer zusetzte. Mein Vater hatte zu dem Zeitpunkt bereits eine neue Partnerin – eine Tatsache, die für mich nicht nachvollziehbar und sehr schmerzhaft war. Ich fühlte mich vollkommen allein, habe meine Trauer verdrängt, um nicht daran zu zerbrechen. Ein typisches Verhalten für Kinder und Jugendliche, wie ich heute weiß.

Erst 16 Jahre später, ich war gerade 30 geworden, kam die so lange im Verborgenen schlummernde Trauer umso heftiger mit all ihrer Wucht wieder auf. Ich musste spüren, was es heißt, nie getrauert zu haben.

Ich litt unter anderem an schweren Depressionen, konnte und wollte nicht mehr mit diesem vernichtendem Schmerz leben. Ein 5-monatiger Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik und eine anschließende 3-jährige ambulante Psychotherapie folgten. Heute stehe ich wieder fest mit beiden Beinen im Leben, bin meiner eigenen Trauer begegnet und habe sie als Bestandteil meines Lebens akzeptieren können.

FP: Was konkret war der Auslöser, dass Du Dich entschlossen hast, Dich im Bereich Kindertrauer zu engagieren?

KG: Im Januar 2017 gab es eine Begegnung mit einem 11-jährigen Mädchen, das kurz zuvor ihre Mutter verloren hatte. Ein scheinbar glückliches Mädchen, das spielte und lachte und machte, was alle anderen auch machten. Und doch spürte ich ihre innere Not, ihre Trauer.

Sie erinnerte mich sehr an mich und ich wollte ihr gern helfen. Ich war mir sicher, dass ich in einer Großstadt wie Leipzig einen Verein oder eine Institution finde, die sich trauernden Kindern annimmt.

Umso erstaunter war ich, als ich in Leipzig kein vergleichbares Angebot fand. Nach erweiterter Recherche stieß ich auf ein paar vereinzelte Vereine in Deutschland, die genau das anboten, was ich selbst als Jugendliche gebraucht hätte bzw. was ich mir nun für das kleine Mädchen wünschen würde.

Eine Woche trug ich den Gedanken still in mir, bis ich ihn dann im Januar 2017 das erste Mal aussprach:

„Wenn es in Leipzig keinen Verein für trauernde Kinder gibt, muss ich ihn eben selbst gründen.“

FP: Was musstest Du tun, damit Dein Vorhaben in die Tat umgesetzt werden konnte?

KG: Zuerst suchte ich nach Personen, die mich bei der Gründung eines Vereins unterstützen sollten. Rechtsanwälte, Kinderpsychologen – leider ohne Erfolg.

Nachdem ich einen themenbezogenen Kurs an der Volkshochschule Leipzig besucht habe, war ich in der Lage, selbstständig eine Satzung aufzusetzen, wusste welche Unterlagen einreichen sind und wie eine Gründung zu erfolgen hat. Ich erzählte so vielen Leuten wie möglich von meinen Vorhaben und erreichte so, dass Anfang März 2017 der Verein „Wolfsträne e.V.“ mit 12 Gründungsmitgliedern gegründet werden konnte.

Ich absolvierte zudem in München eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin für Kinder und Jugendliche und im April nahm die erste Trauergruppe mit 2 Kindern ihre Arbeit auf. Heute begleiten wir bereits 21 Kinder und Jugendliche und mit zunehmendem Bekanntheitsgrad steigen die Anfragen von betroffenen Familien.

FP: Was waren die größten Hürden, die Du für Dein Ziel, für Kinder mit verstorbenen Eltern(teilen) da zu sein, nehmen musstest?  

KG: Die Suche nach Mitstreitern gestaltete sich vorerst als die größte Hürde. Es gibt wenige Menschen, die sich an das Thema Tod und Trauer wagen, zu sehr ist es mit Angst und Unwissenheit negativ belegt und eher ein ungewünschtes Randthema.

FP: Wie konkret hilft euer Verein Kindern?

KG: Wir begleiten Kinder und Jugendliche von 0-21 Jahren einzeln oder in einer Gruppe in ihrer Trauer. Essentiell für unsere Arbeit ist, den trauernden Kindern und Jugendlichen nach einem schweren Verlust einen geschützten Rahmen sowie Raum und Zeit zu geben, um ihre Trauer ausdrücken und bewältigen zu können, damit die Entwicklung weiterhin positiv verlaufen kann und sie das Gefühl haben, mit ihrem Schicksal nicht alleine zu sein.

FP: Wie kommt man auf euch zu – wie wird der Kontakt zu den betreffenden Kindern hergestellt? 

KG: Viele Familien recherchieren eigenständig im Internet nach einer Trauerbegleitung für Kinder und stoßen so auf unseren Verein. Mittlerweile erreichen uns aber auch Anrufe von Sozialarbeitern aus Schulen und Kinderheimen.

Bereits seit unserer Gründung haben wir eine sehr gute Kooperation mit dem „Verband verwaister Eltern und Geschwister“ in Leipzig. Der bei Bedarf Betroffene an uns vermittelt. Nach einem Artikel im November 2017 in einer Leipziger Kinder/Familienzeitschrift erreichen uns fast täglich neue Anfragen von betroffenen Familien.

FP: Wie unterscheidet sich die Kindertrauer von der Trauer Erwachsener?

KG: Anders als Erwachsene drücken Kinder ihre Trauer um einen geliebten Menschen nicht durch Worte, sondern vielmehr im Spiel und beim kreativen Gestalten aus. Sie sind in ihrem Trauerverhalten eher sprunghaft. In einem Moment weinen sie und brauchen Trost, im nächsten Augenblick spielen sie wieder vergnügt.

Der Trauerprozess von Kindern und Jugendlichen ist nicht so konstant, wie der von Erwachsenen, dafür aber oftmals langanhaltender.

FP: Was passiert einem (jungen) Menschen, der seine Trauer nicht rauslassen und einen Verlust nicht oder nur ansatzweise verarbeiten kann?

FP: Da gibt es eine ganz klare Antwort: diese Kinder werden früher oder später, oft erst im erwachsenen Alter, an einem psychischen Leiden erkranken. Dazu gehören zum Beispiel Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen, psychosomatische Erkrankungen, Essstörungen usw.

FP: Gibt es bereits Erkenntnisse, ab wann konkret ein Kind den Tod eines Angehörigen als wirklich endgültigen Zustand wahrnimmt?

KG: Kinder bis zum 3. Lebensjahr begreifen den Tod als solches gar nicht, verspüren aber trotzdem bereits Trauer. Nach dem 3. Lebensjahr kennen sie das Wort „Tod“ sehr gut, wissen aber nicht um dessen Endgültigkeit und erwarten noch die Rückkehr des Toten.

Bis zum 11. Lebensjahr ist das Konzept Tod noch immer nicht vollständig verstanden. Erst etwa ab dem 12./13. Lebensjahr haben Kinder die gleiche Vorstellung vom Tod wie Erwachsene.

FP: Wie läuft ein Treffen der Kinder in der von Dir geleiteten Trauergruppe ab?

KG: Für Kinder (auch für Erwachsene) sind Rituale wichtig und hilfreich. Darum beginnen und beenden wir die Trauergruppen immer gleich. Zu Beginn zündet jedes Kind für den jeweils Verstorbenen eine Kerze an.

In der dann folgenden Blitzlichtrunde kommt jeder einmal zu Wort, die Kinder können mit Hilfe von Gefühlskarten ihre eigene, aktuelle Befindlichkeit ausdrücken und über die Ereignisse seit dem letzten Gruppentreffen berichten.

Anschließend werden kreative Methoden und Materialen eingesetzt um an das Thema Tod und Trauer immer wieder heranzuführen. Das können beispielsweise Geschichten sein, kindgerechte Erklärungen zu den Themen Krankheit/Sterben/Tod, Bastelarbeiten, Ressourcenerarbeitung, Tanz und vieles mehr.

In einer abschließenden Blitzlichtrunde kommen noch einmal alle zu Wort und pusten ihre zu Beginn des Treffens angezündete Kerze aus.

FP: Wie konkret helfen diese Treffen den Kindern – gibt es hier schon erste Erkenntnisse?

KG: Allein die regelmäßigen Zusammentreffen geben ihnen die Gewissheit, mit ihrem Schicksal nicht alleine zu sein. Sie begegnen anderen Kindern, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, die ähnliche Probleme, Ängste und Sorgen haben.

Bei den Treffen dürfen sie sein, wer sie sind, müssen sich nicht verstellen oder schämen.

Vieles, was sie oft in ihrem täglichen Umfeld wie Schule oder Kindergarten an ihre Grenzen (und die von Mitschülern und Lehrern bringt), können sie bei uns ausleben. Sie können sich untereinander austauschen und spüren, dass es völlig normal ist, wie sie gerade auf gewisse Dinge reagieren, wie sie denken oder fühlen.

Sie bekommen bei uns die Möglichkeit über kreative Angebote ihre Gefühle zu äußern – Kindern fällt ein Verbalisieren dieser schwer bzw. ist bis zu einem bestimmten Alter gar unmöglich.

Durch Erinnerungsarbeit erfahren die Kinder, dass der Verstorbene nicht vergessen wird und er bekommt mit der Zeit einen neuen Platz in ihrem jungen Leben zugewiesen.

Anfänglich sind viele Kinder zurückhaltend und schauen lieber erst einmal aus der Ferne zu. Doch spätestens nach dem zweiten Treffen integrieren sie sich in die Gruppe, öffnen sich, erzählen ihre Geschichten und fiebern dem nächsten Treffen entgegen. Nicht selten entstehen unter den Teilnehmern neue Freundschaften.

FP: Kannst Du auch einmal ein Beispiel bringen, in welcher Situation Du ein Kind erlebst, wenn Du mit ihm in Kontakt kommst?  

KG: Ich treffe auf Kinder in allen nur denkbaren Situationen. Kinder, die juchzend durch die Wohnung toben. Kinder, die weinend auf ihrem Bett kauern. Kinder, die konzentriert basteln und spielen. Kinder, die sich nicht mehr aus einer liebevollen Umarmung lösen möchten und Kinder, die wütend ihr Zimmer zerstören. Die gesamte Bandbreite der Gefühle darf ich erleben, erlebbar und aushaltbar machen.

FP: Du selbst bist beruflich in der Intensivpflege für Kinder tätig und auch das Engagement für den Wolfstränen e. V.  ist sehr zeitaufwendig. Wie entspannst Du, wenn es doch mal freie Stunden gibt? Hast Du Hobbys?

KG: Bei Entspannung fällt mir spontan Sauna und Sushi ein. Vor allem versuche ich aber die Wochenenden, an denen ich regulär nicht in meinem Hauptberuf aktiv bin, mit meinem Partner, meiner Familie und meinen Freunden zu gestalten.

Ja, ich habe ein Hobby. Ich spiele Theater und bin Ensemblemitglied in einem kleinen Leipziger Off-Theater. In der Zeit von Proben und Aufführungen ist mein Kopf für wenige Stunden völlig frei von der hauptberuflichen Arbeit und dem Verein. Das ist für mich wichtig, um gesund und ausgeglichen allem gerecht werden zu können.

FP: Wie dicht ist das Netz an Vereinen oder Initiativen, die sich Kindern, deren Mama oder Papa verstorben ist, widmen, bundesweit? 

KG: Es gibt deutschlandweit ein paar wenige Vereine, die sich der Kindertrauer verschrieben haben. Aber deutlich viel zu wenige, so dass keinesfalls der Bedarf abgedeckt werden kann. Wenn, dann gibt es Vereine nur in größeren Städten wie beispielsweise Hamburg, Bremen, München usw. Familien aus umliegenden kleineren Städten müssen zum Teil weite Fahrtwege auf sich nehmen.

FP: Was plant ihr derzeit mit dem Verein, was wird eventuell benötigt und wie kann sich einbringen, wer sich bei euch engagieren will?  

Zur Zeit ist alles sehr aufregend. Wir haben ein 4-monatiges Beratungsstipendium bei startsocial gewonnen. Das verlangt sehr viel intensive Zeit ab, ist aber ein riesiger Meilenstein in der Etablierung und Strukturierung von Wolfsträne.

Da uns fast täglich neue Anfragen erreichen und der Bedarf an Trauerbegleitung in einer Stadt wie Leipzig scheinbar sehr groß ist, liegt im Moment unser Fokus auf der Suche nach weiteren ehrenamtlichen Trauerbegleitern. Wir brauchen Menschen, die zuverlässig, emphatisch und ohne Scheu sind, sich dem Thema anzunehmen.

Unsere Angebote sind für die Betroffenen komplett kostenfrei. Damit wir effektiv und wirkungsvoll helfen können, sind wir darüber hinaus ständig auf Spenden und Sponsoren angewiesen.

Wer sich also angesprochen fühlt und uns unterstützen möchte – wir freuen uns über jeden Kontakt.

Wenn auch Sie mit Kindertrauer konfrontiert sind, Infos zum Verein und den Kontakt gibt es hier: http://www.wolfstraene.de/

Bildnachweis: Katrin Gärtner, privat

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